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16.05.2021

Hedy Baumann: «Ich durfte so viel Schönes erleben, ich vermisse gar nichts»

Corona – und was es mit uns gemacht hat.

Hedy Baumann auf ihrer Terrasse an der Hochwacht mit Panoramablick über die Stadt. Foto: Erich Gmünder

Der 16. März 2020 ist ein Datum, welches wir nicht so schnell vergessen werden: An diesem Tag stand die Schweiz still, die Schulen wurden geschlossen und nur wer systemrelevant war, durfte für die Arbeit das Haus verlassen. Wie hat es sich angefühlt? Nicht ganz repräsentativ haben wir je eine/einen Angehörige/n jeder Generation dazu befragt. Heute: Die 96-jährige Hedy Baumann von der Hochwacht.

Erich Gmünder

Hedy Baumann habe ich vor einem Jahr mitten im Lockdown im Menzlenwald angetroffen. Auf meine Frage nach ihrem Befinden sagte sie mit einem Lächeln: «I bi zfride.» Und setzte nach: «Ich orientiere mich nicht an dem, was ich  n i c h t  mehr kann, sondern an dem, was ich  i m m e r  n o c h kann.»

Als ich sie ein Jahr später zuhause besuche, ist die Antwort immer noch dieselbe. Hedy Baumann ist mit 96 wohl eine der ältesten Bewohnerinnen unseres Quartiers und könnte auch einiges über gesundheitliche Rückschläge erzählen. Davon ist nur am Rande die Rede.

«Ich durfte in meinem Leben so viel Schönes erleben, so viele interessante Menschen kennenlernen, so viele Länder bereisen, dass ich gar nichts vermisse.» Hedy wuchs an der Tschudystrasse als Einzelkind auf – ein Schulgspänli im St.Leonhard war Kurt Furgler.

«Du wirst einmal heiraten, du brauchst das nicht»

Gerne wäre sie Lehrerin oder Kindergärtnerin geworden. «Nach der dritten Sekundarschule an der Flade hätte es noch eine Weiterbildung für zwei Jahre gegeben, wenn sich sechs Schülerinnen gemeldet hätten. Wir waren aber nur fünf. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen.» Du wirst mal heiraten, dann brauchst du das nicht, habe es geheissen. (Aus dem Heiraten wurde nichts, aber sie fand früh einen Freund fürs Leben, der ihr Interesse für Literatur, Kunst, Musik und das Reisen unterstützte und neue Welten erschloss).

Auch beruflich ging es vorwärts: nach Abendkursen war ihre erste KV-Stelle im renommierten Teppichhaus Schuster, danach bei namhaften St.Galler Banken.

Seit 60 Jahren im gleichen Haus

Vor 60 Jahren – der Vater war zwei Jahre vorher gestorben – zog sie mit ihrer Mutter an die Hochwachtstrasse. Nach etwa 40 Jahren im Parterre zügelte Hedy in eine Wohnung im ersten Stock, wo sie heute noch lebt. Ihre Mutter und ihr langjähriger Freund sind nicht mehr da – sie pflegte die beiden bis zuletzt. Gleichzeitig kam die Pensionierung. Trotzdem habe sie sich nie einsam gefühlt. Da waren die Familienangehörigen und der grosse Freundeskreis, und da war ihre nie erloschene Neugier auf das Leben – und die Literatur, wovon Bücherbeigen auf Möbeln und auf dem Boden zeugen. Und da war ihr tägliches Gymnastikprogramm zuhause und zweimal die Woche im Fitnesscenter.

Der tägliche Spaziergang im Menzlenwald

Dann kam vor einem Jahr der Lockdown – die Besuche blieben notgedrungen aus. Drei Mal täglich alleine essen, das habe beelendet. Sie fragte sich öfters, wann wird das wohl aufhören. Doch gleich habe sie sich gescholten: Hedy, du hast ja noch so vieles. – Zwar habe das Augenlicht nachgelassen, aber sie sei zufrieden, wenn sie am Abend noch ein paar Seiten in einem der vielen Bücher lesen könne, die sie einst verschlungen habe. Und was sie sich nie nehmen liess: den täglichen Spaziergang im Menzlenwald.

Eingeschlossen fühlte sie sich nicht, auch dank den hilfsbereiten Nachbarn im Haus. Überhaupt habe sie eine grosse Solidarität erfahren dürfen – von ihren Freunden, die viel jünger seien als sie, oder bei Begegnungen im Wald mit Menschen, die sie vorher nicht kannte.

Nun ist sie froh, dass sie wieder Besuche empfangen und selber einkaufen gehen kann. Als sie Anfang Jahr einen Arzttermin im Parterre hatte, habe Dr. Schindler sie gefragt, ob sie sich impfen lassen wolle, soeben seien die ersten Impfdosen eingetroffen. Sie sagte spontan ja – es war die erste COVID-Impfung in der Praxis Hochwacht.

Positives Fazit

Corona habe auch Gutes bewirkt – vielen sei wieder bewusst geworden, wie privilegiert wir hier leben. Auch persönlich zieht sie ein positives Fazit; sie habe die Ruhe genossen, das Innehalten, das In-Sich-Hineinhören.

Ein Zitat in einem Brief hat es ihr besonders angetan:

Ich sage ja
was morgen ist
auch wenn es Sorge ist
ich sage ja.

«Das ist nun mein Leitmotiv für die Zeit, die mir noch verbleibt in meinem hohen Alter», gibt sie dem Besucher verschmitzt lächelnd mit auf den Weg.

Ihre Idee: Ein Handlauf als Hilfe zum Aufstieg

Für die leidenschaftliche Waldspaziergängerin Hedy Bau­mann ist ein kleiner Traum in Erfüllung gegangen: ein Handlauf auf einer schwer zugänglichen Station des Walderlebnisparcours (die mit den Pilzen). Sie hatte das Anliegen bei der Quartierzei­tung deponiert, diese leitete es an die Ortsbürgergemeinde weiter, und siehe da, in den ersten Maitagen wurde der erste Handlauf erstellt. Nicht nur ältere, sondern auch behinderte oder temporär eingeschränkte Waldbadende dürften ihre Dankbar­keit teilen.

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