21.

3.06.2024

«Die Mobilität der Zukunft sollte Spass machen!»

Erkenntnisse aus der Mobilitätsforschung.

Mit dem Mobiliätsforscher Dr. Philipp Scharfenberger unterwegs in unserem Quartier: Zwischen Bahnhalt, Baustellen und Teufener Strasse.

Philipp Scharfenberger fordert zur Entkrampfung in der aktuellen Mobilitätsdebatte auf. Der Vize-Direktor des Instituts für Mobilität der HSG erforscht Mobilitätsbedürfnisse – und beobachtet momentan ideologische Verhärtungen und Ängste vor Veränderungen. Auf einem Spaziergang durchs Riethüsli im Gebiet der Teufener Strasse haben wir ein Gespräch zur Mobilität der Zukunft geführt.

«Das Riethüsli ist bezüglich Mobilität anspruchsvoll gelegen: Zum einen liegt es etwas ausserhalb der Stadt; zum anderen geht es ganz schön den Berg hoch. Aber diese Lage zeichnet es auch aus. Ich bin beispielsweise gern auf der Solitüde oder im Berneggwald und geniesse den tollen Ausblick. Und wenn man ins Appenzellerland möchte, führt einen der Weg ebenfalls durchs Riethüsli.»

Damit spricht Dr. Philipp Scharfenberger bereits die Kernelemente des Quartiers an: Hügel und eine grosse Strasse. Ein Quartier, das geradewegs dazu einlädt, sich mit dem Thema Mobilität auseinander zu setzen. Allerdings wird dies kein Beitrag über Pro und Kontra Liebegg-Tunnel oder Tempo 30, sondern eher ein Aufruf, sich eigene Gedanken zu machen, wie wir uns bewegen und unsere Umgebung gestalten wollen.

Die «3V-Strategie» der Mobilitätsplanung: Vermeiden – Verlagern – Verträglich gestalten

Rund ein Drittel der schweizweiten Emissionen stammen aus dem Verkehr. Es besteht also Handlungsbedarf. Eine Möglichkeit, diese Emissionen zu verringern, besteht darin, Verkehr zu vermeiden. Dabei geht es unter anderem um einen reflektierten Umgang mit Mobilität, aber auch um die Gestaltung von Städten und Quartieren: «Welche Dinge kann ich direkt vor Ort in meinem Quartier erledigen und für welche muss ich ins Auto oder den öV steigen?» Dies seien wichtige Fragen, sowohl für die Quartier- als auch Mobilitätsplanung, so Scharfenberger.

Auch der Digitalisierung kommt eine interessante Rolle zu: «Zukünftig wird uns die Digitalisierung – mehr noch als aktuell – dabei unterstützen, Verkehr zu vermeiden. Nämlich dann, wenn wir digitale Formate sinnvoll als Alternative zu physischen Treffen einsetzen.» Dank neuer Technologien können also Fahrten vermieden werden – gerade auch bezüglich Durchgangsverkehr eine Hoffnung fürs Quartier.

Beim Verlagern steht das Anliegen im Zentrum, Einzelautofahrten zum öV oder in geteilte Mobilitätsformen (Sharing-Angebote) zu verschieben. «Viele Menschen haben sich daran gewöhnt, überall mit dem Auto hinzufahren. Eine wichtige Aufgabe ist es meines Erachtens, einen vielseitigeren und zweckmässigeren Umgang mit unterschiedlichen Mobilitätsformen zu vermitteln und erlernen.»

Scharfenberger hält wenig von Verboten, sondern plädiert für reizvolle, einfach zugängliche Alternativen zum eigenen Auto – und einen gewissen Preisdruck. Er selbst hat sein Auto verkauft, weil ihm der Stellplatz mit der Zeit zu teuer geworden ist und er das öV-Angebot in St. Gallen sehr schätzt: «Der Zuckerbrot-und-Peitsche-Ansatz hat bei mir funktioniert.»

Wichtig für den einfachen Zugang zu Alternativen zum Auto seien sogenannte Hubs, an denen man verschiedene Mobilitätsformen gebündelt an einem Ort auffindet und unkompliziert nutzen kann. Die Bushaltestelle und der Bahnhalt Riethüsli seien bereits eine Art Hub. Ergänzend dazu brauche es gute, umfassende Apps, die alle verfügbaren Optionen anzeigen, wie man von A nach B gelangen kann, also schlussendlich auch Mobility-Autos, E-Trottis oder weitere Möglichkeiten. «Wenn solche Anwendungen kompliziert sind oder weite Strecken zu Fuss fürs Umsteigen nötig sind, verschwindet der Spass an der Sache – und man steigt wieder ins Auto», so Scharfenberger.

Wenn Vermeiden und Verlagern nicht funktioniere, gehe es darum, Verkehr verträglich zu gestalten. Die Elektrifizierung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) sei dabei zentral. Nebst den vermiedenen CO2-Emissionen reduziere sich damit auch der Lärm in Verkehrszonen bis zu 30 km/h. Philipp Scharfenberger hadert damit, dass die Debatte so ideologisch geführt wird. Ein Auto-Bashing greife zu kurz: Das Auto sei in gewissen Kontexten ein effizientes und sinnvolles Verkehrsmittel – gerade in Gebieten, in denen der öV spärlich oder gar nicht vorhanden sei. Mit sparsamen E-Fahrzeugen könne auch ein wichtiger Beitrag zu ressourcenschonenderer Mobilität geleistet werden.

Das Riethüsli in 20 Jahren?

Man sei oft ängstlich gegenüber Veränderungen, müsse aber bedenken: «Vieles, was wir an einer Stadt oder einem Quartier heute schätzen, wurde irgendwann einmal gebaut und somit verändert.» Anstatt sich auf abstrakte Ziele zu fokussieren («Wir wollen weniger Verkehr»), regt Scharfenberger dazu an, sich beim nächsten Spaziergang durchs Quartier konkret zu überlegen: Was gefällt mir hier? Was möchte ich verändern? Der Wahl-Sanktgaller, der seit 14 Jahren hier lebt, findet das Projekt «Grünes Gallustal» in diesem Zusammenhang sehr inspirierend: «Hier wird nicht abstrakt darüber gesprochen, dass St. Gallen grüner werden soll. Die detaillierten Visualisierungen helfen, sich ein alternatives St. Gallen vorzustellen und sich zu fragen: Gefällt es mir oder nicht?»

Die Debatten und Planungen rund um den möglichen Liebegg-Tunnel und Güterbahnhofanschluss verfolgt Scharfenberger aus Distanz, aber mit grossem Interesse. Insgesamt findet er das Projekt spannend, mit Vorals auch Nachteilen: «Natürlich würde es das Riethüsli stark entlasten, beruhigen und auch Raum schaffen für alternative Verkehrsmittel und -wege. Gleichzeitig sind die für eine Umsetzung benötigten Ressourcen – also Kosten, Baumaterialien und CO2-Emissionen – natürlich immens! Wiederum schafft das Projekt aber auch Arbeit in der und für die Region.» Dass die Diskussion intensiv geführt werde, sei wichtig: Projekte dieser Grössenordnung sollten wohl bedacht und mit den relevanten Interessensgruppen in Ruhe und dennoch zielstrebig abgestimmt sein.

Trotz der «3V-Strategie» verschwindet der Verkehr auch in Zukunft nicht; auch neue Mobilitätsformen benötigen ihren Platz – die Frage ist, wie wird der Platz genutzt und welche Prioritäten werden gesetzt. Nicht nur wegen der aktuellen Baustellen: Das Riethüsli ist im Umbruch und wird sich weiter verändern: Fliegende Autos wird es wahrscheinlich in naher Zukunft nicht geben, dafür vielleicht einen richtigen Hub und … – Ideen, Skizzen und Visionen bitte an die Redaktion!

Wie ist dein Mobilitätsverhalten?

Philipp Scharfenberger ist Dozent und Projektleiter am Institut für Marketing und Customer Insight sowie Vize-Direktor des Instituts für Mobilität an der Universität St. Gallen. Ein Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf der Untersuchung von Konsumund Mobilitätsbedürfnissen. Im Mai wurde die Studie «New Mobility Buddies» abgeschlossen. Dr. Philipp Scharfenberger war darin leitend beteiligt. In der Studie wurden 20 private Haushalte in Berlin, Hamburg, St. Gallen und Zürich über einen Zeitraum von vier Monaten von Wissenschaftlern – sogenannten Mobility Buddys – bei der Ausgestaltung ihrer Mobilität begleitet und beraten. Nach einer Messung des bisherigen Mobilitätsverhaltens wurden zusammen mit den Haushalten verschiedene Massnahmen getestet, die zu einer emissionsärmeren Mobilität beitragen.

Kommentieren

Die Angaben "E-Mail-Adresse", "Adresse" und "PLZ/Ort" werden nicht veröffentlicht, sondern dienen zur eindeutigen Identifizierung der Urheberschaft. Bitte alle Felder ausfüllen.