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17.09.2019

„Ein faszinierender Mikrokosmos“

Die Pächter*innen des Familiengartenvereins Ruckhalde sind besorgt - ein Besuch.

Ein Paradies auf Zeit. Fotos: Erich Gmünder

Die Stadt St. Gallen will vorwärts machen mit der Überbauung der Ruckhalde – dies nachdem die engste Bahnkurve Europas zurückgebaut wurde. Pächterinnen und Pächter des Familiengartenvereins Ruckhalde wehren sich nun für ihren Lebensraum. Sie schrieben dem Stadtrat einen Brief und überlegen sich weitere Massnahmen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.

Kathrin Rieser ist Erstunterzeichnerin des Briefes und erzählt uns bei einem Besuch in ihrem Garten über ihre Beweggründe.

„Ich bin seit ca. 15 Jahren hier Pächterin. Das Leben hier ist sehr vielfältig und unkompliziert. Ich bin immer wieder fasziniert von diesem Mikrokosmos, wo so viele Leute aus ganz unterschiedlichen Generationen und Ethnien friedlich nebeneinander gärtnern, sich austauschen und ihren Freiraum ausserhalb der eigenen vier Wände geniessen.

Es sind vermehrt junge Familien mit Kindern, daneben gibt es PortugiesInnen, ItalienerInnen, KurdInnen, TürkInnen, EritreerInnen – einfach die ganze Bandbreite der Bevölkerung. Und es ist erstaunlich, wie gut sich alle hier zurechtfinden. Zwar gelten klare Regeln, insbesondere was Lärmimmissionen oder die naturnahe Bewirtschaftung angeht, aber innerhalb dieses Rahmens können alle so sein, wie sie sind. Oft werden spannende Gespräche über den Gartenhag hinaus geführt und Erfahrungen ausgetauscht. Oder man lässt einander einfach in Ruhe.

Manche Leute, vor allem von anderen Ethnien, sind vor allem am Ertrag orientiert. In Zeiten der Ernährungssouveränität ist die Teil-Selbstversorgung sehr wichtig. Sie ziehen hier Gemüse wie Salat, Rüebli, Zwiebeln oder Knoblauch oder Eigengewächse aus ihrem Kulturraum.

Andere freuen sich an ihren Schnitt- und Wildblumen. Oft werden Setzlinge getauscht. Oder man trifft Leute, den Arm voller Gemüse, die sich freuen, einen Teil ihrer Ernte spontan zu verschenken.

Biologisch Gärtnern und der Erde Sorge tragen ist wie gesagt eine wichtige Bedingung. Deshalb ist das auch ein Paradies für die Biodiversität – und das ist gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Klimadiskussion sehr wichtig. Man kann Schmetterlinge, Heugümper, Käfer, seltene Vogelarten und ab und zu auch Fuchs, Reh oder Igel beobachten. Abends wird der Grill angeworfen, man sitzt zusammen oder geniesst die Abendsonne im Liegestuhl. Eine Pächterin erzählte mir, sie haben ihrem Mann gedroht, wenn sie nicht mehr in den Garten gehen könne, müsse er ihr eine Psychotherapie bezahlen (lacht).

Natürlich machen sich jetzt viele Sorgen, vor allem ältere Menschen, wo sie hingehen sollen, wenn die Stadt ernst macht und der Familiengarten einer Überbauung weichen muss. Grundsätzlich begrüssen wir es auch, wenn die Stadt Projekte für den sozialen Wohnungsbau fördert. Wir fragen uns aber, ob dies in St. Gallen mit seinem hohen Leerwohnungsbestand tatsächlich so dringend nötig ist. Für uns ist es ein Widerspruch, wenn man etwas Soziales macht und gleichzeitig eine andere Gruppe verdrängt. Vielleicht ist ja beides nebeneinander möglich?

Viele stört auch die Logik dahinter, dass Privateigentum einmal mehr höher gewichtet wird als die Bedürfnisse einfacher Mieter, die sich kein Haus mit Garten leisten können. Wenn es auf Kosten Bedürftiger geht, ist das nicht nachhaltig und darf nicht akzeptiert werden.

Es ist uns deshalb wichtig, dass möglichst viele Leute wissen, worum es uns hier geht. Die Leute, welche hier in der Erde grübeln, pflegen einen einfachen Lebensstil. Die meisten kommen zu Fuss oder mit dem Velo aus den umliegenden Quartieren. Bei einer Verlegung an die Peripherie der Stadt wäre dies nicht mehr möglich. Es geht auch darum, dass in der Stadt das Land spürbar ist – dass die Menschen die Verbindung zur Natur wahrnehmen. Wenn die Natur nur noch als Accessoire wahrgenommen wird, vergessen wir, wie stark wir von ihr abhängig sind.

Die Stadt hat uns auf unseren Brief signalisiert, dass sie im Laufe der Weiterentwicklung des Projekts auf uns zukommen und uns partizipativ beteiligen will. Es ist höchste Zeit, andere Wege zu wählen und sorgfältiger miteinander umzugehen.

Ich habe beruflich durch meine Tätigkeit als Co-Leiterin des Kindertreffs tiRumpel und Mitinitiantin der Brache Lachen oft mit Migrantinnen und Migranten zu tun und weiss zu schätzen, dass die öffentliche Hand andernorts viel Geld ausgibt für die Integration. Doch hier passiert es auf unkomplizierte Art und Weise. Ich finde, dass die Stadt das anerkennen und schätzen sollte.“

Aufgezeichnet: Erich Gmünder

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