12.10.2020
Das Riethüsli beteiligt sich überdurchschnittlich
Abstimmungsanalyse vom 27. September 2020.
Wie stark interessieren die Wahlen und Abstimmungsvorlagen im Quartier Riethüsli und wie mobilisieren sie die Bevölkerung? Antworten darauf gibt der Politologe Benjamin Schlegel, langjähriger Mitarbeiter unserer Quartierzeitung und Doktorand an der Uni Zürich in seiner Untersuchung.
Benjamin Schlegel*
Am 27. September kam es zu einem beladenen Abstimmungssonntag: fünf eidgenössische Abstimmungen, zwei städtische Abstimmungen sowie die Stadtrats- und Stadtparlamentswahlen. Einige wollten (keine) Kampfjets, andere die Wölfe oder Schafe retten, einigen lag der Vaterschaftsurlaub am Herzen oder die Beziehung zur EU. Und: Seit langem kam es nach Thomas Scheitlins Rücktritt wieder einmal zu einem richtigen Wahlkampf ums Stadtpräsidium.
Die verschiedenen Vorlagen führten zu einer außergewöhnlich hohen Stimmbeteiligung, wie sie die Schweiz schon länger nicht mehr gesehen hat. Seit 1971 – also seit das Frauenstimmrecht eingeführt wurde – war die Stimmbeteiligung schweizweit nur viermal höher. Das letzte Mal 2016 bei der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative der SVP. Am höchsten war die Stimmbeteiligung 1992 beim EWR-Beitritt, wo in der ganzen Schweiz 78.7 Prozent teilnahmen. An zweiter Stelle liegt die Schwarzenbachinitiative gegen die Überfremdung 1974, gefolgt von der Armeeabschaffungsinitiative 1989.
Was auffällt: Bei allen fünf Abstimmungsterminen ging es um die Souveränität der Schweiz oder um die Armee. Themen, welche die Bevölkerung an die Urne treiben. Doch wie haben sich die Riethüslerinnen und Riethüsler an der letzten Abstimmung beteiligt? Überdurchschnittlich, wie Daten der Fachstelle für Statistik des Kantons St. Gallen zeigen.
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Riethüsli an vierter Stelle
Vergleicht man die verschiedenen Quartiere der Stadt St. Gallen, erscheint das Riethüsli an vierter Stelle. 65.3 Prozent – also praktisch zwei von drei – haben teilgenommen. Die höchste Beteiligung hat Rotmonten mit 76.6 Prozent, gefolgt von unserem Nachbarn St. Georgen mit 73.4 Prozent. St. Jakob liegt noch knapp vorne mit 66.5 Prozent. Das Schlusslicht macht Winkeln mit 49.3 Prozent.
Schaut man sich die Beteiligung über die Geschlechter und Altersklassen ab, ergibt sich ein bekanntes Bild: Die Partizipation nimmt übers Alter zu. Ältere Frauen nehmen aber grundsätzlich weniger teil als die gleichaltrigen Männer. Das dürfte damit zusammenhängen, dass Frauen über 70 das Stimmrecht erst später erhalten haben. Hätten sie das andere Geschlecht innegehabt, hätte sie schon vor 1971 teilnehmen dürfen. Ebenfalls interessant ist das Bild bei der jungen Bevölkerung: Junge Frauen beteiligen sich stärker als junge Männer – ein Phänomen, das auch an anderen Orten beobachtet wird.
Warum nimmt jemand an einer Abstimmung teil oder nicht? Dazu gibt es verschiedene Erklärungen. Das Ressourcenmodell (auch SES-Modell genannt) geht davon aus, dass der sozioökonomische Status darüber entscheidet, ob jemand teilnimmt oder nicht. Je gebildeter, je wohlhabender und je höher der gesellschaftliche Status (z.B. Beruf) einer Person, desto wahrscheinlicher nimmt die Person an Abstimmungen teil. Zusätzlich spielen Alter und Geschlecht eine Rolle. Personen nehmen hingegen nicht teil, weil sie nicht können, nicht wollen oder sie niemand gefragt hat. So zeigt sich in Studien, dass junge Eltern weniger oft teilnehmen, weil sie wegen der Kinder keine Zeit dafür haben und Einzelhaushalte, weil sie von keinem anderen Mitglied des Haushalts ermuntert werden können, teilzunehmen.
Ein anderes Modell geht davon aus, dass die Stimmbeteiligung höher ausfällt, wenn von einem knappen Resultat ausgegangen werden kann. Denn bei einem knappen Resultat kann die eigene Stimme das Resultat eher beeinflussen und die Mobilisierung der Parteien und Verbände nimmt zu. Zu einer niedrigeren Stimmbeteiligung führen hingegen komplexe Vorlagen. Wird eine Vorlage von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern nicht verstanden, nehmen sie auch weniger teil.
Stimmregisterdaten der Stadt St. Gallen zwischen 2010 und 2013 zeigen: Etwa 20 Prozent nehmen nie teil und etwa 20 Prozent immer oder fast immer. 60 Prozent nehmen selektiv teil, also wenn eine Abstimmungsvorlage für sie relevant ist. Das bedeutet auch, dass grundsätzlich rund 80 Prozent von ihrer Möglichkeit Gebrauch machen, an Abstimmungen und Wahlen teilzunehmen, es aber nicht immer tun.
Das Riethüsli gehört zu den Quartieren, welche überdurchschnittlich teilnehmen. Nichts desto trotz hat es noch Luft nach oben.
*Benjamin Schlegel, aufgewachsen im Riethüsli, ist Assistent an der Universität Zürich und schreibt seine Doktorarbeit über strategisches Wählen. Im Master hat er sich auf politischen Datenjournalismus und Schweizer Politik spezialisiert. Er ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und arbeitet neben dem Studium als persönlicher Mitarbeiter von Nationalrätin Claudia Friedl. Ihn interessierte Artenschutz schon als Kind, wo er bei Sponsorenläufen unter anderem für Tiger und Wale Geld gesammelt hat.
Autor/in: riethuesli.com | 12.10.2020 | Keine Kommentare | Tools: