19.07.2021
Woher der Wind weht
Das Panorama der Stadt, vom Berneggwaldrand aus betrachtet.
Martin Wettstein
Ein Abendspaziergang oben am Berneggwaldrand, von West nach Ost, und beim Gehen oft auf die Stadt hinunterschauen und bewundernd, neugierig, hochnäsig, erstaunt erblicken und wieder einmal anschauen, was zufällig ins Auge fällt. Assoziationen ergeben sich von selber.
Zuerst die Kirche St.Otmar westlich, weithin sichtbar, besonders von hier oben. Eine der schönen, traditionellen Kirchen St.Gallens. Sie dominiert mit ihrem bräunlich-roten Spitzturm das kompakte Otmar-Quartier. Das Quartier, in dem unser legendärer Kurt Furgler, Handballer und Bundespräsident, aufgewachsen ist. Ich, der Spaziergänger, habe viele Erinnerungen an ihn, weil ich in den WKs sein persönlicher Infanterie-Funker war (wow!).
Am Morgen höre ich beim Aufwachen die Stundenschläge der Otmar-Kirche. Bei Westwind sind sie laut und zählbar. Bei Ostwind leise und verschwommen. Beides macht sie mir sympathisch, auch wenn einzelne Menschen dort, kirchensteuerpflichtig oder nicht, von den Glockenschlägen vielleicht nicht besonders begeistert sind.
Das Bundesverwaltungsgericht
Etwas weiter ostwärts das Bundesverwaltungsgericht. (Was sein Zweck ist und was darin geschieht, zeigt ein herziges Filmli im Internet). Auf jeden Fall hat mit diesem Gericht unsere Stadt einen ebenso würdigen Status erhalten wie die beiden anderen Bundesgerichte in Lausanne und Bellinzona. Bern hat für einmal unseren Ruf «Mesinddennonodoo!» gehört.
Der Bau diskret-auffällig (kuriose Adjektiv-Verbindung!) ins Gelände eingepasst. Ein filigraner Klotz, wenn man so sagen könnte. Ein eleganter, hellgrauweisser Kubus mit schmalen, langen Fensterschlitzen. Und auf seinem Flachdach eine grosse Schweizerfahne (was denn sonst!), die jederzeit anzeigt, woher der Wind weht: aus Westen, Osten oder Süden. Oder ob er überhaupt weht. Wenn die Fahne schlaff herunterhängt, liegt ein ruhiges Hochdruckgebiet über der Schweiz, vielleicht heisst es «Erich». Dann werden am Bernegg-Waldrand abends Würste gebraten, wegen Corona einige mehr als sonst. Viren lieben die Wärme nicht.
Städtische Abfalldeponie?
Am steilen unteren Rosenberg dann eine seit vielen Monaten offene hellbraune Gelände-Wunde, von der man lange Zeit glauben konnte, hier werde eine innerstädtische Abfalldeponie geschaffen.
Ein riesiger Kran davor, fast ständig im Stillstandmodus. Standort: Greifenstrasse, mitten in wunderschönen Stickerei-Villen aus der letzten Jahrhundertwende. Geschichtsträchtige Strassennamen wie Stauffacherstrasse, Melchtalstrasse, Tellstrasse.
Auskunft vor Ort: Hier mussten zunächst Häuser abgebrochen und Bäume gefällt werden. Wahrscheinlich Einsprachen aller Art. Aber in den kommenden Monaten wird die Wunde offenbar verheilen und eine noble Überbauung mit vier Häusern entstehen, wie es die Bautafel zeigt. Eigentums- und Mietwohnungen preislich vermutlich der dortigen Gegend angepasst.
Und dann die Fachhochschule
Was als Nächstes kommt, ist ungeheuerlich. Stillstehen am Waldrand ist Pflicht! Die FHS, die Fachhochschule Ostschweiz.
Zuerst muss natürlich fairerweise gesagt werden: Es gibt auch bei diesem Gebäudemonstrum ein Innen und Aussen. Das Innen ist gediegen. Lichte und leichte helle Räume mit viel Holz: Hörsäle, Arbeitsräume, Seminarräume, Gesprächsräume, Besprechungszimmer, Mensa, Bibliothek … und eine beachtliche Zahl von Werken namhafter und berühmter Künstlerinnen und Künstlern.
Aber das Aussen, angeschaut vom Waldrand oben und fast von überall her zu sehen (machen Sie sich gefasst auf meine Meinung): das ganze Gebäude ein einziger Graus, ein Augenverbrechen, ein grausamer, elefantöser, überdimensionierter Viereck-Stempel, ins Eingeweide der Stadt gerammt, wo sie empfindlich ist: in den Umkreis von Bahnhof, Hauptpost und Rathaus. In der Beschreibung ihres FHS-Turm-Gebildes sprechen die beiden Architekten von einem «Dreiklang mit den ähnlich hohen Türmen des Stadthauses (sic!) und der Hauptpost».
Haben sich die Juroren und die Hochbauämter von Kanton und Stadt diesen «Dreiklang» damals angehört? Wohl nicht. Sonst wäre dieses Schandmal unserer Stadt erspart geblieben. – («Hier stehe ich, ich kann nicht anders», soll Luther gesagt haben. Ich kann es selber nicht anders sagen). Wie wohltuend der Hauptbahnhof (wie eine Kathedrale, der lediglich der Ostflügel fehlt) und die Hauptpost mit Uhrenturm, beide um 1915 entstanden, grossartig markant mit grobem grauem Stein verkleidet.
Eine hundertjährige Geschichte ist dort aufgehoben. – Anhalten und tief durchatmen! – Zusammen mit dem vor Jahren wunderbar dunkelverspiegelten Rathaus ist hier, wenn schon, der eigentliche «Dreiklang» zu hören.
Stolz des Spaziergängers
Wie beruhigend eingebettet dann im Zentrum: die Kathedrale, St.Laurenzen, St.Mangen. St.Gallens innerster Kreis. Welt-Kulturgut, Stolz der Stadt und Stolz des andächtigen Bernegg-Spaziergängers.
Auffällig das weithin strahlende Weiss des St. Mangen-Kirchturms. Gedanken an Wyborada, eine der raren Frauen, die in der männlichen Kirchengeschichte überhaupt eine Rolle gespielt haben. Schliesslich der Blick gegen den Ostteil unserer Stadt.
Dort denken wir an die Vision, die offenbar ein Christoph Züllig hat (Leider hat die Fasnacht heuer nicht stattgefunden): St.Gallen soll endlich einen See bekommen wie Zürich, Genf, Lausanne, Luzern, Lugano und Rorschach, um nur die wichtigsten Städte zu nennen. Einen See, vielleicht als Denkmal für den nach der letzten Eiszeit abgeschmolzenen Nebenarm des Rheingletschers, der unser V-Tal ausgeschliffen hat, vor Jahrtausenden. – Dieser See würde ungefähr vom Espenmoos bis in die Nähe der OLMA reichen. Vielleicht gäbe es dann statt des Säuli-Rennens ein Säuli-Wettschwimmen.
Und zuallerletzt in der östlichen Ferne der reelle See, der Bodensee, manchmal grünlich, manchmal tiefblau, manchmal grau … aber immer herzerweiternd. Mit dieser Sicht, bis zum deutschnachbarlichen Ufer, steigen wir hinunter zur Falkenburg, wenn der Ostwind weht (aber bitte nicht zu kalt!)
Autor/in: Martin Wettstein | 19.07.2021 | Keine Kommentare | Tools: