1.11.2022
Sie wird vielen fehlen
Im Gedenken an "unsere" Zeitungsverträgerin Renate Sonderegger.
Die Nachricht traf dieses Wochenende viele Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft und weit darüber hinaus wie ein Schock: Die Zeitungsverträgerin Renate Sonderegger starb am Samstagmorgen kurz nach sechs Uhr unweit ihrer Wohnung, am Ende ihrer Zeitungstour.
Ich hatte Renate noch ein paar Tage davor an der Teufener Strasse angetroffen. Sie war wie gewohnt für einen kurzen Schwatz zu haben, in ihrer unverwechselbaren Art als Frohnatur mit ihrem Innerrhoder Schalk und Humor. So wie sie in ihrem Leben viele Schicksalsschläge weggesteckt hatte und sich nie unterkriegen liess. Mit ihrem Bläss Franjo gehörte sie zum Quartierbild.
Meine Kollegin Claudia Jakob hat ihr vor einem Jahr in unserem Quartiermagazin ein einfühlsames Porträt gewidmet. Renate freute sich sehr darüber, wurde sie doch oft darauf angesprochen und so ergaben sich viele Gespräche. Sie wird uns allen fehlen. Ruhe in Frieden, liebe Renate.
Erich Gmünder
(Die Abdankung findet am Freitag, 18. November um 10 Uhr im Friedhof Feldli statt)
«Man sieht nur an einen Menschen heran…»
(Dieser Text erschien in der QZ Magazin Riethüsli Dezember 2021)
Wir haben Renate Sonderegger einen Morgen lang auf ihrer Tour begleitet. Es gibt Leute, die man zu kennen glaubt, auch wenn man noch nie mit ihnen gesprochen hat. Die flinke Zeitungsverträgerin mit ihrem Appenzeller Bläss ist so ein Fall.
Claudia Jakob, Text und Fotos
Schnellen Schrittes schreitet die Zeitungsfrau täglich das Quartier ab. Nun durfte ich sie auf einer Tour begleiten. Am Morgen hat es noch geschneit, nun ist es kalt, als ich Renate bei der Post Riethüsli treffe. Während ich in einen dicken Mantel eingemummelt bin und einen warmen Schal und Handschuhe trage, läuft sie rum mit offener Jacke, weder Mütze noch etwas Wärmendes an den Händen, in der einen Hand eine Zigarette, mit der anderen zieht sie den Wagen mit der Werbung. Franjo, so heisst ihr Bläss, trottet hintendrein, so kennt man die beiden.
Ich begleite sie, stelle Fragen und sie bleibt mir keine Antwort schuldig, Renate trägt ihr Herz auf der Zunge. Ihre ehrliche und offene Art hat mich nicht nur überrascht, sondern auch berührt. Ihre Geschichte hat sie grosszügig mit mir geteilt und ich hoffe, dass auch Sie Renate durch diesen Beitrag besser kennen lernen werden.
Vor über 20 Jahren zog Renate zu ihrem damaligen Schatz an die Ruhbergstrasse. Durch ihn bekam sie den Job, den sie nun seit mehr als 21 Jahren ausübt: Montags bis samstags trägt sie das Tagblatt in zwei Routen aus. Später kamen die Touren für die Werbung hinzu, welche sie am Montag und Dienstag bestreitet. Ebenfalls verteilt sie das Quickmail seit 10 Jahren. Während der letzten fünf Monate bestritt sie eine dritte Zeitungstour, diese liess sie bis zur Liebegg laufen.
Renate ist schnell unterwegs, sie kennt die Häuser und weiss, wo sie wie viele Zeitschriften benötigt. Auf die Frage, wie viel sie verdient und wie das berechnet wird, gibt sie mir ohne Umschweife Auskunft: «Ich werde pauschal entlöhnt, teilweise nach Menge oder Zeitaufwand berechnet. Wenn es ein guter Monat ist, verdiene ich 2300 Franken. Damit komme ich knapp über die Runden, oft bin ich unter dem Existenzminimum.»
Trotzdem sieht Renate viel Positives an ihrem Job, da sie zwar angestellt, aber flexibel ist. Die Zeitung muss bis 6.30 Uhr im Briefkasten liegen, für die Werbung kann sie sich die Touren selbst einteilen. Und: Sie kann immer ihren Franjo dabeihaben.
Renate beginnt die Zeitungstour jeweils um halb vier Uhr morgens. Bei jedem Wetter, jetzt im Winter bei Dunkelheit und oft klirrender Kälte, läuft sie mit ihrem Wagen durch die Strassen, manchmal ist es gefährlich glatt. Einmal rutschte sie so schlimm aus, dass sie noch Wochen später Schmerzen im Becken hatte.
Das Schicksal bezwungen
Während unseres Rundgangs erzählte mir Renate von ihrem Skiunfall, den sie im Jahre 1979 erlitten hatte. Zweifache Schädelfraktur, zweifacher Kieferbruch, für 8 ½ Monate fiel sie aus, konnte nicht mehr arbeiten. «Wenn du so etwas erlebt hast, ist es für dich nicht mehr selbstverständlich, nur schon einen Kugelschreiber vom Boden aufheben zu können.» Sie ist glücklich, dass sie sich heute wieder so bewegen kann.
Die erste Zeit nach dem Unfall verbrachte sie im Rollstuhl. Während sie sich schon mit dem neuen Schicksal abgefunden hatte, liess ihr damaliger Freund nicht locker und versuchte, sie zu motivieren: «Schatz, wenn du die Gehübungen nicht machst, können wir nie wieder nach Aarau ins Happy Landing einen Charleston tanzen gehen», erzählt Renate, als wäre es gestern gewesen. Sie tankte Energie und lernte wieder laufen, ein Wunder für die Angehörigen, die in dieser Zeit viel gelitten hatten, da sie nicht wussten, ob es Renate jemals wieder gut gehen würde.
«Für mich selbst war diese Zeit nur halb so schlimm, ich konnte mich an nichts erinnern, da ich an einer Amnesie gelitten hatte. In dieser Phase meines Lebens wurde mir bewusst, dass nichts selbstverständlich ist.»
«Die Leute kennen mich wegen Franjo. Oft werde ich wegen ihm angesprochen.» Seit über acht Jahren lebt er bei Renate, er gehörte früher einer guten Bekannten, die gesundheitliche Probleme hatte und nach einem langen Kampf schliesslich verstarb. Der heute 12-jährige Franjo begleitet Renate täglich auf den Touren, ab und zu darf er zu Renates Tochter, die ebenfalls im Riethüsli wohnt, wenn sie selbst mal eine Auszeit braucht.
«Einen Hund haben ist eine grosse Aufgabe. Ich versuche, ihm und seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Doch mit den täglichen Spaziergängen bekommt er die Bewegung, welche er braucht und verdient hat.» Ob die weiten Strecken für Franjo nicht zu anstrengend seien, will ich wissen. Daraufhin lacht sie und sagt: «Wenn er lesen könnte, wüsste er haargenau, wo er die Zeitungen einwerfen muss. Er kennt die Touren in- und auswendig.»
Während unseres Rundgangs ist Franjo nie an der Leine, er trottet immer in einem kleinen Abstand hinter uns her. «Du darfst ihn einfach nicht streicheln, seine frühere Besitzerin hat ihm beigebracht, sich nicht anfassen zu lassen. Die Leute denken, weil er bellt, sei er ein böser Hund. Aber das ist er nicht, er möchte nur in Ruhe gelassen werden.» Wenn sie mal ohne ihren vierbeinigen Begleiter unterwegs ist, fragen die Leute schon besorgt, was mit Franjo los sei.
Leben am Existenzminimum
Während unserer Tour überschlage ich im Kopf, wie Renate dieses Leben am Rande oder unterhalb des Existenzminimums bewältigt. Einst hatte sie einen Antrag auf Sozialhilfe gestellt, dieser wurde jedoch abgelehnt, da sie durchschnittlich 81 Franken über dem Existenzminimum liege – im Monat. «Es reicht leider oft nicht. Ich habe aber ein gutes Umfeld, Menschen, die mir Geld leihen.»
Die Darlehen müssten jedoch zurückbezahlt werden, häuften sich an. Doch im Oktober habe sie von einer unbekannten Person eine grössere Geldsumme erhalten, diese lag einfach in ihrem Briefkasten. Mit dieser anonymen Spende konnte Renate die Schulden bei ihren Bekannten zurückbezahlen. Sie habe keine Ahnung, wer ihr das Geld zukommen liess. Aber der Schuldenberg ist weg, darüber ist sie erleichtert.
Reden öffnet Türen
Renate ist 61 Jahre alt, sie fühlt sich fit und imstande zu arbeiten. Jeden Tag trägt sie die Zeitungen aus und ist trotz den Widrigkeiten in ihrem Leben ein positiver und aufgestellter Mensch. Und die gebürtige Obereggerin mit ihrem Appenzeller Witz lässt sich gerne in ein Gespräch verwickeln. «Menschen sollten viel mehr miteinander reden, wir hätten so viel weniger Probleme», sagt sie mir.
Obwohl wir von aussen nicht unterschiedlicher sein könnten, haben wir viele Gemeinsamkeiten. Während unserer Tour haben wir viel gelacht, philosophiert und Einblicke in das Leben der anderen erhalten. «Man sieht nur an einen Menschen heran, nicht in ihn hinein», sagt sie mir am Schluss unseres Gesprächs. Anschliessend erzählt sie mir einen nicht jugendfreien Witz, über den wir schallend lachen. Wir verabschieden uns und ich freue mich jetzt schon auf ein Wiedersehen – wie mit einer alten Bekannten.
Autor/in: Erich Gmünder | 1.11.2022 | Keine Kommentare | Tools: