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6.11.2022

„Milo Rau ist ein Riethüsli-Fan“

Der Mann, der am 17. November mit dem Grossen Kulturpreis der St.Gallischen Kulturstiftung ausgezeichnet wird.

Milo Raus Beziehung zum Riethüsli. Foto: Michiel Devijver/zVg.

Erich Gmünder

Am 17. November erhält der Theaterintendant Milo Rau den Grossen Kulturpreis der St.Gallischen Kulturstiftung. Dabei fällt auch etwas Glanz auf unser Quartier: Haben Sie gewusst, dass Milo den grössten Teil seiner Jugendzeit im Riethüsli verbracht hat, wo heute noch seine Eltern leben und er oft mit seiner Familie die Ferien verbringt?

Vielen im Quartier ist gar nicht bekannt, dass Milo Rau hier, genauer in Oberhofstetten, einen Teil seiner Wurzeln hat. Einer, der es ganz genau weiss, ist der Riethüsler Rolf Bossart. Milo Rau hat ihn unlängst in einem Interview als seinen besten Freund bezeichnet. Was steckt dahinter?

Rolf Bossart ist an der Fellenbergstrasse aufgewachsen, wo er heute noch mit seiner Familie wohnt. Von gemeinsamen Jugendstreichen kann er allerdings nicht erzählen, Milo Rau (1977) ist 6 Jahre jünger. Ihn lernte er als Kulturjournalist von Saiten im Cabi kennen, dem Anti-Rassimustreff im Linsebüel. Da war er 26 und Milo Rau 20. Hat er damals  schon gespürt, wohin die Reise geht?

Talent früh entdeckt

„Man hat sofort gesehen, dass er immer in grossen Kategorien denkt,  nicht in Klein-Klein machen will, und auch, dass er unglaublich produktiv ist und mit einem unglaublichen Gedächtnis ausgestattet. Aber dass es jetzt das Theater sein sollte, wo er sein Wirkungsfeld fand, das war nicht von Anfang an klar, jedoch dass ihn Texte, Philosophie, Weltgeschichte und die ganz grossen Zusammenhänge interessieren, und dass er sie auch sofort begreift – mit einer totalen Selbstverständlichkeit, nicht verbissen. «’Ich wött jetz da unbedingt!‘, das war es nie, sondern eher, ‚Okay, das machen wir.‘, und dann wird es einfach gemacht und abgeliefert ohne grosses Aufhebens.“

Offenbar sprang der Funke. Seit 15 Jahren gehört Rolf nicht nur zum engeren Beraterstab von Milo Rau, sondern pflegt auch eine freundschaftliche Beziehung – viele Jahre verbrachten die beiden mit ihren Familien gemeinsame Ferien oder, wenn er bei seinen Eltern in Oberhofstetten auf Besuch ist, schaut er bei Rolf zu Hause vorbei und früher als seine Kinder noch kleiner gewesen seien, war er auch manchmal froh, um ein ruhiges Arbeitszimmer bei ihm.

Jugend in Oberhofstetten

Rolf Bossart ist promovierter Theologe, Mittelschullehrer in Appenzell und Dozent an der Pädagogischen Hochschule, aber auch ein gefragter Publizist. Er hat den späteren Weg von Milo in der Theaterwelt eng begleitet, als Rechercheur, als gelegentlicher Mitarbeiter in der Dramaturgie, als Mitherausgeber und Autor zahlreicher Begleitpublikationen zu den weltweit aufsehenerregenden Inszenierungen, insbesondere in der Schweiz (Gerichtsverhandlungen wie der Weltwoche-Prozess oder das Kongo-Tribunal etc.) im Theater am Neumarkt oder „Wilhelm Tell“ auf der Pfauenbühne des Schauspielhauses, und selbst bei Proben und Aufführungen im belgischen Gent, dessen Theater Milo Rau als Direktor leitet, oder in Berlin. Er war zusammen mit Milo auch Mitgründer des IPM, International Institute of Political Murder, und der City of Change.

Immer wieder ist Rolf auch privat in Köln, wo Milo Rau seinen Lebensmittelpunkt mit seiner Partnerin und den beiden Kindern hat. Deshalb kennt er den renommierten Theatermann auch wie kein zweiter.

Milo Raus ganz persönlicher „Fussabdruck“ in unserem Quartier: Die Geschichte seines Eintrags im Gipfelbuch auf dem Räuberplatz an Ostern 2022. QZ Mai 2022

Sehr oft sei zu lesen, dass Milo Rau in Bern geboren sei und daraus werde geschlossen, dass er Berner sei. Dabei lebte er seit Ende der Primarschulzeit bis zum Beginn seines Studiums in Zürich in Oberhofstetten. „Er hat ja bereits in einem Interview im Saiten gesagt, dass er ein totaler St. Galler Fan ist. Sein Herz schlägt für St. Gallen und auch für unser Quartier, das er sehr schätzt und liebt. Immer, wenn er hier auf Besuch ist, geht er gleich raus zum Laufen in den Wäldern. Mit seiner Familie wandert er auch jedes Jahr im Alpstein. Oft arbeitet er im Haus seiner Eltern.“

Von wegen mangelnder „Fussabdruck“

Umso seltsamer ist daher die Vorgeschichte dieser Preisverleihung. 2018 sollte Milo Rau den Kulturpreis der Stadt St. Gallen erhalten; so wollte es die zuständige Kommission. Doch der Stadtrat verweigerte sich, mit der lapidaren Begründung, der kulturelle „Fussabdruck“ von Milo Rau in der Region sei zu klein, worauf drei Mitglieder der Kommission aus Protest zurücktraten. Die ganze Kommunikation sei schwach gewesen, findet Bossart: „Wenn schon hätte man politische oder künstlerische Bedenken äussern müssen, das wollte man nicht, weil man vermutlich selber gemerkt hat, dass der Entscheid auf schwachen Füssen steht.“ Insbesondere das mit dem fehlenden Fussabdruck sei ein Witz gewesen, wenn man die Beziehung von Milo Rau zur Stadt kenne.

Welche weiteren Gründe beim Stadtrat den Ausschlag gaben, darüber kann auch Rolf Bossart nur mutmassen. „Ich glaube, es war eine Mischung zwischen verschiedenen kleinlichen Argumenten. Letztlich fehlte dann darum der Mut.“

Vielleicht war ein Grund der Skandal um das Stück über den „St. Galler Lehrermord“ gewesen – das Stück wurde auf Betreiben der Angehörigen am Stadttheater abgesetzt, weil man Angst hatte, dass die ganze Tragödie nochmals aufgerollt würde. „Vermutlich gibt es schon noch Leute, die ihm das nicht verziehen haben und denken, er habe etwas ganz Schlimmes gemacht. Dabei war das von A bis Z ein grosses Missverständnis.“ Vielleicht hätten aber auch typisch ostschweizerische Eigenschaften eine Rolle gespielt, weshalb man den Preis nicht an Milo Rau vergeben wollte.  „Es ist ein bisschen ein Ostschweizer Charakterzug, über den Milo und ich uns oft lustig machen – und auch herzig finden – , so im Stile von „da dörfet mer doch nöd, da goot doch nöd, und da chamer doch nöd.“ Und natürlich gebe es auch immer Stimmen, die sagten, „nehmt doch die weniger bekannten Leute hier, solche Weltkünstler, das bringt uns gar nichts.“

Vielleicht wäre es sogar ähnlich gelaufen, wenn der Kanton zuerst den Preis vergeben hätte, mutmasst Rolf Bossart: „Dann hätte es wohl geheissen, was macht der überhaupt, das ist doch gar kein St. Galler, und sowieso, die ganze Welt gibt ihm schon Preise, was müssen wir jetzt auch noch heneno hösele…“

Freude über Anerkennung

Dass nun der Kanton die Scharte der Stadt auswetzt und Milo in den Kreis berühmter VorgängerInnen aufnimmt (Roman Signer, Pipilotti Rist, Gardi Hutter u.a.), darüber freut sich Rolf Bossart mit und für seinen Freund Milo Rau. „Für die Region ist das doch gut, wenn man sagt, das sind berühmte Leute, die haben in der Welt zu tun, die holen wir heim mit einem Preis. Der Preis festigt diese Beziehung. Ich finde es toll, dass die Ostschweiz sagt: „Schaut, das ist doch einer von uns!“

Odilia Hiller: „Es war schnell klar, dass Milo ein Überflieger ist“

Eine, die Milo Rau schon von Kindesbeinen an kennt, ist die Journalistin Odilia Hiller, bis vor kurzem stellvertretende Chefredaktorin des Tagblatts, die ebenfalls in unserem Quartier lebt.

Sie besuchte mit Rau von 1989 bis 1991 die gleiche Klasse im Untergymnasium der Kantonsschule am Burggraben, später die Parallelklasse – eine Freundschaft fürs Leben entstand. Der Jugendfreund ist der Götti ihrer 16-jährigen Tochter.

«Milo war damals ein kleiner Strüpflig, der mir kaum bis zur Schulter reichte. Aber es war  schnell klar, dass er hochbegabt ist, ein Überflieger und blitzschneller Denker, mit einem unheimlichen, wahrscheinlich fotografischen Gedächtnis. Die Matura schloss er mit Bestnoten ab, ohne sich gross anstrengen zu müssen. So wirkte es zumindest auf mich.“ Einer, der schon mit zwölf Jahren Marx gelesen hatte: Das hätte etwas abgehoben wirken können – wäre Klein-Milo nicht so humorvoll und lustig gewesen, sagt Odilia Hiller. „Das ist er immer geblieben, und es ist, was ich bis heute an ihm schätze. In seinen Stücken scheint dieser Humor immer wieder durch. Auch wenn alle stets tun, als wären seine Werke ausschliesslich bierernst.“

Die beiden verband die Liebe zur französischen Sprache und Literatur. So absolvierten sie nach der Matura gemeinsam einen mehrmonatigen Aufenthalt in ihrer Lieblingsstadt Paris. Charles Baudelaire und „Les fleurs du mal“ lautete das Schwerpunktthema ihrer Studien an der Sorbonne. Diesmal schlossen sie beide mit Bestnoten ab. Er wie immer etwas besser als sie. Zurück in der Schweiz studierten beide Literatur – er in Zürich, sie in Fribourg.

Dass der „Strüpflig“ dereinst am Theater eine vielbeachtete internationale Karriere machen würde, war damals noch nicht klar. Dass er in irgendeiner Form gross herauskommen würde, hingegen schon, so Odilia Hiller. „Ich kenne niemanden, der schneller und grösser denkt.“

Eine passende Theaterreminiszenz gibt es auch: Im Jahr 1990 spielten die beiden zum 125-jährigen Jubiläum des Untergymnasiums in einer Theateraufführung unter der Regie von Deutschlehrer und Autor Fred Kurer: In einer selbstentwickelten Szene mit viel Slapstick gaben sie ein Ehepaar. „Milo erzählt heute noch gern, wie er sich bei mir unterhaken musste, und ich ihn dabei auf der Bühne herumschleuderte, wenn wir uns bewegten. Er war einfach winzig!“ Ob er in diesem Moment Feuer fing für die Bühne, die die Welt bedeutet?

ÖFFENTLICHE PREISVERLEIHUNG

Der Grosse Kulturpreis wird in der Regel alle drei Jahre verliehen. Die Preisverleihung findet am 17. November um 19 Uhr in der Lokremise St. Gallen statt. Jedermann ist dazu eingeladen.

Anlässlich dieser Verleihung zeigt die Kunst Halle Sankt Gallen vom 18. bis 20. November eine Ausstellung zur filmischen, theatralen und aktivistischen Arbeit von Milo Rau.

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