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24.02.2024

Dorji Tsering: Mit ganzem Herzen dabei

Das Flüchtlingskind, das in der Ostschweiz neue Wurzeln fand.

Dorji Tsering-Bruderer wohnt mit seiner Frau an der Schneebergstrasse.

*Text: Albert Baumgartner, Fotos: Regina Kühne

1959 ist ein Jahr enormer geopolitischer Verwerfungen. China erobert auf brutale Weise Tibet, Tausende Tibeterinnen und Tibeter sterben, unzählige Klöster mit kostbarem Kulturgut werden zerstört. Auch in Indien, seit 1947 unabhängig, tobt ein grausamer Kampf zwischen Moslems und Hindus.

Der kleine Dorji ist in einer Chrätze (Rückenkorb), die normalerweise für den Transport von trockenem Yakmist gebraucht wird, auf dem Rücken seiner Mutter. Er und seine Familie sind mitten im strengen Winter auf der Flucht über hohe Pässe und tiefe Schluchten, bei bitterer Kälte. Dorji hat ein Stück harten Käse zum Kauen bekommen, damit er ja ruhig bleibt und die Flüchtenden nicht mit Schreien verrät. Nach tagelangen Fussmärschen erreichen sie Nordindien, wo auch der Dalai-Lama seinen Sitz im Exil hat. Die Eltern werden in die Gebirgsregion Kulu Manali im indischen Himalaya verfrachtet, wo sie im Strassenbau eingesetzt werden. Aufgrund der prekären Lage und zum Kindeswohl kommt Dorji ohne seine Eltern 4 Jahre nach Dharamsala.

1964, Kloten, eine Swissair-Maschine von Indien kommend, landet. Dorji, 7½ Jahre alt, ist schwer krank, er leidet an offener Tuberkulose und massivenNierenproblemen und wird sofort ins Inselspital in Bern verlegt, anschliessend geht es zur Kur nach Heiligenschwende. Der heimatlose Bub spricht inzwi-schen berndeutsch. 11 Monate nach seiner Ankunft in der Schweiz zieht er in sein neues Daheim im Pesta-lozzidorf in Trogen, ins Haus der Tibeter. Die anderen Kinder lachen ihn aus, weil er fast nicht mehr tibetisch sprechen kann.

Rückblickend ist Dorji Tsering dankbar, in einer so kosmopolitischen Umgebung aufgewachsen zu sein, mit so unterschiedlichen Nationen und Religionen, dankbar auch, dass er im Pestalozzidorf neben dem Schweizer Schulstoff in seiner Muttersprache und Kultur unterrichtet wurde. Dorji ist ein talentierter Junge. In Trogen besucht er die Wirtschaftsmittelschule. Nach dem Abschluss der Kantonsschule aber möchte er erst einmal handwerklich tätig sein und sucht sich eine Stelle als Hilfsgärtner, womit er sich bereits seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Es treibt ihn ein unbändiges Verlangen nach Selbständigkeit an und bereits mit 19 Jahren zieht er in eine eigene Wohnung.

1973, es ist ein unfassbarer Moment: nach 13 Jahren Trennung darf Dorji Tsering nach Indien reisen, wo er seine Eltern und zum ersten Mal seine beiden Schwestern trifft. Er hat sie nicht mehr gekannt, aber tief im Herzen spürte er: Das sind meine Eltern. Inzwischen ist er 40-mal nach Indien gereist, um den Kontakt zu den Eltern, die er auch finanziell unterstützte, zu pflegen.

Lebenslanges Lernen, das ist das Motto von Dorji Tsering, und sein Curriculum ist eindrücklich:

– Pflegefachmann HF, Schwerpunkt Psychiatrie
– Agronom FH mit Bachelor Abschluss
– Master in Supervision und Organisationsberatung an der Zürcher Fachhochschule ZHAW
– Nachdiplomstudium in Sozialmanagement an der Universität Fribourg

Ein beruflicher Höhepunkt ist 1998 seine Ernennung zum Leiter des Pestalozzidorfes in Trogen. Das erfüllt ihn als ehemaligen Schützling dieser Organisation mit besonderem Stolz.

Ein glücklicher Stern steht auch über seinem Privatleben. In Angela Bruderer Tsering, einer bekannten Stadt St.Galler Persönlichkeit, findet er eine ideale Ehepartnerin. Das Paar adoptiert einen Sohn und eine Tochter. Sie haben ein offenes Haus und da ist auch Platz für eine Pflegetochter aus Bosnien. Dorji Tsering, einst heimatlos, hat seine Heimat gefunden, auch seine Heimat in sich selbst, in seinem Herzen und er hat zahlreichen Menschen Heimat geschenkt.

Ein weiterer beruflicher Höhepunkt ist die Gründung des Hofbergs in Wil, ein Wohnheim für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, konzipiert als Zwischenstation nach der Behandlung in einer Klinik. Dorji Tsering hat gemeinsam mit einer Landsfrau von Grund auf alles aufgebaut, einen Verein gegründet, die Finanzen geregelt, eine Liegenschaft gekauft und das Wohnheim geleitet.

Jetzt ist er pensioniert und wohnt zusammen mit seiner Frau hoch über St.Gallen an der Schneebergstrasse, in einem stilvollen Haus, mit herrlichem Blick auf die Stadt. Mit im Haus wohnen eine Katze und ein Hün-chen namens Karma (tibetisch = Stern). Vom Wesen her bezeichnet er sich als sehr diszipliniert und strukturiert. Dank dieser Eigenschaften meistert er den Übergang in die Pensionierung sehr gut. Etwa um 7 Uhr steht er auf und füttert die Tiere. Um 8 Uhrgeht er joggen. Um 9 Uhr kommt er zurück mit frischem Brot und bespricht mit seiner Frau den bevorstehenden Tag.

Besondere Freude bereitet ihm der Garten. Endlich hat er Zeit, ihn in Schuss zu bringen. Bewusst hat er nach der Pensionierung keine sozialen Engagements übernommen. Ein Leben lang hat er sich für andere engagiert. Jetzt darf er sich Zeit für sich selber nehmen. Er liest gerne. Ihn interessieren Themen wie Geschichte, Religionsgeschichte, Biografien, auch alte Schweizer Erzähler, zum Beispiel Jeremias Gotthelf. «Mir ist es nie langweilig» und dabei strahlt er übers ganze Gesicht.

Dorji Tsering mit seiner vierbeinigen Freundin Karma.

Überhaupt verströmt er eine Aura von Lebensfreude und Leichtigkeit. In seiner Gegenwart wird einem warm ums Herz. Neulich hat er zu backen begonnen, einen Cheesecake (Quarkkuchen) und einen Zitronencake. Immer wieder mal was Neues wagen, so bleibt er lebendig. Auch seine fünf Enkel bereiten ihm Freude. Dorji Tsering ist glücklich und dankbar, dass er in einem so schönen Land wie der Schweiz Heimat gefunden hat, einem Land auch, das seinen Menschen Freiheit, geordnete Verhältnisse und soziale Sicherheit bietet. 

*Dieser Beitrag erschien zuersten bei Pro Senecute St. Gallen

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