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17.12.2022

«Eine Rückkehr ist vorläufig keine Option»

Andreas Zanolari zieht nach 9 Monaten Krieg Bilanz über die Hilfe seines Vereins für die Ukrainerinnen und Ukrainer im Riethüsli.

Nach neun Monaten Krieg in der Ukraine: Andreas Zanolari von Ukraine@Riethüsli zieht eine Bilanz der Hilfsorganisation. Fotos: EG

Die Fragen stellte  Erich Gmünder (Das Interview wurde schriftlich geführt)

Mitte März 2022, drei Wochen nach dem Beginn des An­griffs, habt ihr eure Aktion gestartet. Inzwischen sind neun Monate vergangen, der Krieg dauert an – Zeit für eine Bilanz. In Zahlen: Wieviele Menschen haben im Riethüsli Aufnahme gefunden?

Andreas Zanolari: Es sind bis jetzt 42 Menschen aus der Ukraine ins Riethüsli gekommen. Fünf von ihnen haben St. Gallen wieder verlassen (Schweiz, Deutschland, Polen) und 13 Personen sind in eigene Wohnungen in der Stadt umgezogen. Aktuell leben 24 Ukrainerinnen und Ukrainer im Quartier, verteilt auf 6 Gastfamilien und in zwei Wohnungen.

Der Krieg in der Ukraine geht unvermindert weiter, mit Luftangriffen auf die Zivilbevölkerung, auf die lebens-notwendige Infrastruktur. Wie wirkt sich das auf die Möglichkeit und den Willen der Menschen aus, in ihr Land zurückzukehren?

Stark! Viele der im Frühling Angekommenen stellten sich auf wenige Monate ein. Die aktuelle Situation macht jegliche Pläne zunichte, welche im Sommer noch halbwegs realistisch schienen. Eine Rückkehr ist für sie keine Option mehr. Sie warten den Winter ab und schauen dann.

Eine Mutter mit zwei Kindern hatte geplant, im Herbst wieder in die Ukraine zurückzukehren. Ihr Mann hatte nach Wochen extra eine Ausnahmebewilligung zur Ausreise erhalten, damit er mit einem Auto seine Familie abholen konnte. Als er in der Schweiz war, fand der Angriff auf die Kertsch-Brücke mit den darauffolgenden massiven Raketenangriffen auf die ukrainische Infrastruktur statt. Emotional durch den Wind, reiste die Fa­milie in die Ukraine. Wir hatten zu ihnen noch Kontakt und erhielten ein Foto von einer Kerze (kein Strom, kein Wasser, 2 – 3 Sirenen am Tag – in Liwiw). Es war ein unhaltbarer Zustand für die Mutter und ihre Kinder. Eine Woche später reisten sie wieder zurück nach St. Gallen, obwohl es ihnen das Herz erneut zerriss, ihren Mann und Vater für unbestimmte Zeit zu verlassen.

Was sind das für Menschen, die jetzt in die Schweiz flüchten und hier Aufnahme finden?

Nach der ersten Welle im Frühling wurde es im Quartier sehr ruhig. In den Herbstferien sind dann zwei Familien aus Cherson via die Sozialen Dienste in eigene Wohnungen ins Quartier gekommen. Ich konnte sie persönlich besuchen und da Rita (eine Schutzsuchende der ersten Welle; sie wohnte mit ihren Kindern bei uns, hat jetzt aber eine Wohnung in Birnbäumen) mich begleitete und dolmetschte, erfuhr ich auch ein wenig von ihrer «Flüchtlingsgeschichte». Leider deckt sich diese 1:1 mit den grauenvollen Berichten aus den Medien.

Die eine Familie sind ursprünglich Krim-Tataren und mussten schon 2014 «vor Putin» flüchten. In Cherson bau-ten sie sich eine zweite Existenz auf. Beide Familien hatten eigene Häuser. Als die Russen kamen, wurden sie aus ihren Häusern vertrieben, sie konnten nichts mitnehmen. Die Russen plünderten alles, was nicht niet- und nagelfest war, danach wüteten die Soldaten in ihren Häusern. Tapeten wurden heruntergerissen, Fenster zerschlagen, Decken­stuckaturen heruntergeschlagen. Mehr Schaden hätte nur ein Volltreffer einer Rakete verursachen können. Ich hoffte beim Zuhören so sehr, dass sie nur materielle Schäden erlitten und keine körperlichen!

Zurück zur Frage. Rita meinte nach dem Gespräch, das seien nun die «echten Ukrainer». Sie harrten so lange aus, bis es nicht mehr ging. Sie sind sehr bescheiden und ruhig vom Naturell her.

Die beiden Männer wollen sofort arbeiten, um für ihre Familien selbständig sorgen zu können. Ich merkte es auch, als ich sie fragte, was sie noch bräuchten, was ihnen noch fehle. Die erste Antwort war immer «Nichts. Alles gut. Vielen Dank.» Doch man sah, was fehlte. Kein Sofa, nur vier Essstühle für fünf Personen, und auch ein Blick in die Kü­che zeigte die spartanische Ausrüstung durch das Sozialamt. Ja, man kann in Sicherheit leben, aber eben kein biss­chen mehr. Rita und ich fragten dann konkret nach. Braucht ihr keine Suppenteller? Ein Brotmesser? Eine Lampe und ein Sofa im Wohnzimmer (es war einfach ein leerer Raum)? Spielsachen für die Kinder? … Selten sagten sie «ja gerne». Häufiger bedankten sie sich verneinend und Rita sah mich an und nickte «ja, sie brauchen es.»

Ziel war ja von Anfang an, dass die Schutzsuchenden rasch eine gewisse Autonomie erlangen: eine eigene Wohnung, Arbeit, Integration in der Schule. Wie sieht hier die Bilanz aus?

Aus meiner Sicht haben der Schutzstatus S und die gute Arbeit des städtischen Sozialamtes sowie der Schule Riethüsli in allen Punkten rasch zu guten Situationen der Betroffenen geführt. An dieser Stelle möchte ich Daniela Müller und den Lehrpersonen der Primarschule Riethüsli herzlich danken. Ihr macht einen super Job mit den ukrainischen Kindern, der weit über die Aufgaben der Schule hinaus geht!

Der einzige Punkt, welcher für viele noch unerfüllt bleibt, ist Arbeit. Dies ist bekanntlich wegen den Sprachhürden nicht so schnell umsetzbar.

Was für Probleme haben sich gestellt?

Ich kann hier nur von eigenen Beobachtungen oder Rück­meldungen, welche zu mir gelangt sind, sprechen. Zum Teil kritisch wurde die Verfügbarkeit der Sozialamtsmitarbeiter genannt. Wobei ich verstehe, dass das Sozialamt nicht eine «Rund-um-die-Uhr»-Betreuung anbieten kann. Die Fragen werden beantwortet. Not- und Sozialhilfe wird geleistet, aber nicht immer so schnell, wie es die Betroffenen gerne hätten. Das ist keine Kritik an der Arbeit des Sozialamtes, sondern als normaler Prozess unseres Sozialsystems anzusehen.

Wie erlebt ihr die Stimmung im Quartier?

Ich erlebe die Stimmung immer noch als sehr gut. Die an­fängliche Aufregung, die sichtbare Solidaritätswelle hat sich bei allen etwas gelegt. Wir leben wieder in normalen Atemzügen unser Leben und «der Ukraine-Krieg» ist auch noch da. Der Wille zu helfen ist aber weiterhin da. Wenn ich Sachen in der WhatsApp-Gruppe «Markplatz Riethüsli» für die Familien suche, werde ich meistens schnell und kos­tenlos fündig. Lieferdienste der versprochenen Sachen sind für das Quartier selbstverständlich. Das ist für die Betroffenen sehr wertvoll und sie schätzen es enorm und bedanken sich von Herzen für die «Geschenke». Es kommen nicht nur Occasionsangebote, sondern immer wieder auch mal Fragen wie: «Und hat die Familie den gesuchten Mixer gefunden? Sonst kaufe ich ihnen einen!»

Ihr habt vom Sponsorenlauf der Schule einen grossen Betrag erhalten – wie konntet ihr damit helfen, braucht ihr weitere Spenden?

Ja, es waren fast 20 000 Franken. Nochmals herzlichen Dank allen Kindern und der Schule für diese super Unterstützung! Alle Personen, welche ins Quartier ziehen, besuche ich persönlich und überreiche ihnen pro Person ein Willkommensgeschenk des Quartiers Riethüsli in der Höhe von 50 Franken. Die Verwendung ist an keinen Zweck gebunden. Sie dürfen sich etwas gönnen, wonach ihr Herz sich sehnt.

Sonst haben wir vom Geld noch wenig Gebrauch gemacht. Einmal bezahlten wir einen Dolmetscherservice für eine Spitaloperationsbesprechung, welcher «nicht gedeckt war», ein andermal finanzierten wir ein Halbtax, da wir so die Fahrkosten zu einem wichtigen sozialen Kontakt reduzieren konnten.

Der Verein Ukraine@Riethüsli braucht vorderhand keine Spenden. Wenn ihr «die Ukraine» unterstützen möchtet, bitte spendet dem VSO (Verein Selbsthilfeprojekte im Osten) von Heidi Kundela! (Angaben am Ende dieses Beitrags). Diese direkte Hilfe vor Ort in der Ukraine ist aktuell viel wichtiger!

Ihr habt ja letzthin selber eine Spende von Fr. 2000 aus eurer Vereinskasse an den VSO, im Quartier vertreten durch Heidi Kundela, resp. an die Partnerorganisation HSiO getätigt – was war euer Motiv?

Damals nach dem Sponsorenlaufen wurde das Geld je zur Hälfte dem VSO und uns gespendet. Da die Arbeit des VSO, bzw. seiner Partnerorganisation HSiO vor Ort in der Ukraine viel dringender auf Unterstützung angewiesen ist, hat der Vorstand entschieden, eine einmalige Spende von 2000.- an den VSO zu tätigen. Diese Spende entspricht unserer langfristigen Strategie, die Menschen in der Ukraine zu unterstützen. Wenn es hier im Riethüsli wenig finanzielle Unterstützung braucht, da genug Menschen im Quartier kostenlos wertvolle Hilfe leisten, soll das Geld nicht auf unserem Konto alt werden. Unser Verein hat in den Statuten festgehalten, nicht verwendetes Geld nach einer allfälligen Vereinsauflösung an Hilfsorganisationen mit Hilfeleistungen in der Ukraine wie beispielsweise dem VSO weiterzugeben.

Zusammengefasst: Was für eine Bilanz zieht ihr nach neun Monaten?

Weiterhin eine gute! Der direkte Kontakt zu den Schutz-suchenden im Quartier ist für diese äusserst wertvoll. Sie wissen, wohin sie sich «in der Nachbarschaft» wenden können, dass sie nicht allein sind und Unterstützung erhalten, wenn sie diese brauchen. Unser Quartier hilft sehr unkompliziert und rasch.

Ebenfalls leisten wir sehr wertvolle Arbeit beim Vernetzen der Ukrainerinnen und Ukrainer im Quartier. Wir führen eine Karte, welche alle im Quartier wohnhaften Schutzsuchenden mit Kontaktdaten zeigt. Diese Karte teilen wir nach jedem Update in der Whatsapp Gruppe «Ukraine@Riethüsli»

So sind ukrainische «Riethüsli-Kenner» schnell über Neuzuzüge informiert. Sie helfen sich gegenseitig, besuchen sich und tauschen sich in ihrer Sprache aus. Dies erleichtert es Neuankommenden sehr, sich schnell zurecht zu finden.

Wagst du einen Blick in die Zukunft?

Nein, ich hoffe nur, dass dieser Albtraum für Millionen von Menschen schneller ein «gutes Ende» hat, als wir uns das rational vorstellen können. Aber kürzlich las ich in der NZZ (14.11.2022) ein sehr interessantes Interview mit Garry Kasparow, dem ehemaligen sowjetischen Schachweltmeister. Dieses Interview machte mir Hoffnung. Er schildert darin sehr fundiert, wie Russland und Putin funktionieren, weshalb der Westen zu Putins Anfängen ihn falsch eingeschätzt hat, zu was er fähig ist und zu was nicht. Aussagen wie «es ist anzunehmen, dass Russland im Frühling die Munition ausgeht» und «Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Russland gewinnt, oder die Ukraine gewinnt. Für die Ukraine muss ein Sieg die Befreiung der gesamten Ukraine beinhalten, also auch der Krim und von Sewastopol. Ich gehe davon aus, dass dies im kommenden Jahr passieren wird… (…) der Kollaps des russischen Regimes und hoffentlich der Beginn von etwas Neuem (…)».

Spendenkonto:

Wenn ihr spenden wollt, empfiehlt der Verein Ukraine@ Riethüsli, wegen der aktuellen Notlage in der Ukraine, den VSO (Verein Selbsthilfeprojekte im Osten) resp. dessen Partnerorganisation HSiO zu unterstützen:

HSiO GmbH 7000 Chur,

IBAN: CH28 0900 0000 6150 5491 4,

Vermerk «Ukraine».

Die Spenden sind steuerabzugsberechtigt.       

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