5.05.2020
„St. Gallen ist wirklich extrem gut weggekommen“
Sieben Wochen im Corona-Modus: Der Riethüsler Hausarzt Dr. Stefan Schindler zieht eine erste Bilanz.
Dr. Stefan Schindler führt zusammen mit seiner Kollegin Dipl. med. Beata Banach-Bukowska die Hausarztpraxis Hochwacht. Im Interview erzählt er, wie seine Patientinnen und Patienten auf die Pandemie reagiert haben und gibt dem Quartier gute Noten in Sachen Nachbarschaftshilfe.
Interview: Erich Gmünder
Können Sie eine erste Bilanz ziehen, mit wie vielen Infizierten Ihre Praxis konfrontiert wurde.
In unserer Praxis haben wir einen einzigen Fall gehabt. Das war ganz am Anfang, als wir die Tests noch selber gemacht haben. Danach haben wir Patienten mit Symptomen resp. Verdacht auf eine Infektion ins kantonale Testzentrum geschickt. Ziel ist, dass jemand, der einen Coronaverdacht hat, gar nicht erst in eine Praxis geht, um das Ansteckungsrisiko möglichst auszuschliessen. Aber auch von jenen Patienten, die wir weitergeleitet haben, wurde nur ein einziger positiv auf Corona getestet. In St. Georgen verlief es ähnlich, wie meine Erkundigungen bei Kollegen dort ergeben haben.
Sind Ihnen Todesfälle im Quartier bekannt?
Gottseidank nein, weder hier noch in St. Georgen.
Haben Sie mit einem schwereren Verlauf gerechnet?
Wir haben wirklich befürchtet, dass es ähnliche Zustände geben könnte wie beispielsweise im Tessin. Von daher ist der Verlauf natürlich deutlich leichter als befürchtet. St. Gallen ist da wirklich extrem gut weggekommen.
Worauf führen Sie das zurück?
Irgendwie scheint es regionale Unterschiede zu geben, die nicht alle auf aktive Eigenmassnahmen zurückzuführen sind. Aber man muss auch sagen, St. Gallen hat früh reagiert, und die Menschen haben sich aus meiner Sicht ziemlich gut an die Regeln gehalten, wie Abstandhalten oder die Hygienemassnahmen wie Händewaschen, Desinfizieren etc.
Waren die ganzen Massnahmen übertrieben?
Nein, umgekehrt, es ist ein Erfolg der Hygiene- und Abstandsregeln, an die sich die Leute offenbar sehr gut gehalten haben. Es gibt also keine Entwarnung, sondern ist eine Aufforderung, mit dieser Disziplin weiterzumachen. Wenn man Glück hat, bleibt die zweite Welle aus – doch die zweite Welle kommt, wenn wir mit der Disziplin nachlassen.
Sind die Menschen am Anfang ängstlicher gewesen und hat sich da etwas verändert?
Ganz viele unserer älteren Patienten oder andere Angehörige einer Risikogruppe sind nicht mehr rausgegangen, blieben also wirklich mehrere Wochen zuhause oder haben die Wohnung nur verlassen, wenn sie ganz sicher waren. Die Disziplin ist erstaunlich gross. Man hat sich in der Zwischenzeit ein bisschen arrangiert mit der Situation, aber die Angst, rauszugehen oder im Supermarkt einzukaufen und dabei eng mit anderen Menschen zusammen zu sein, ist noch relativ gross.
Gibt es Patienten, die unter den Einschränkungen psychisch gelitten haben oder Angstzustände hatten?
Die meisten sagen mir, dass es ihnen einfach todlangweilig sei und sie froh seien, wenn es bald vorbei ist und sie wieder raus können. Es gab niemanden, wo wir medizinisch tätig werden mussten aufgrund von Angst- oder Panikzuständen wegen der Isolation.
Wurden die Leute im Alltag unterstützt, haben die Netzwerke funktioniert?
Wir haben auch verschiedene Angebote erhalten von Bewohnern oder Organisationen im Quartier zugunsten unserer Patientinnen und Patienten, aber unter dem Strich gab es mehr Hilfsangebote, als Nachfrage da war. Offenbar haben sich unsere Patienten selber organisiert, sei es in der Familie, mit Nachbarn oder sie haben die verschiedenen Hilfsangebote, welche mit Flyern bekannt gemacht wurden, in Anspruch genommen. Auf jeden Fall sind uns keine Patienten bekannt, die nicht versorgt oder allein gelassen wurden und verzweifelt sind.
Was raten Sie ganz allgemein Patienten, die wegen einem gesundheitlichen Problem gerne die Arztpraxis aufsuchen würden und den Besuch hinausgeschoben haben?
Im Augenblick ist es ja so, dass es St. Gallen praktisch keine Infektionen mehr hat und es unwahrscheinlich ist, dass man sich anstecken kann, so dass also auch ein Arztbesuch unbedenklich ist. Die Schutzkonzepte gelten weiterhin, auch in den Arztpraxen. Diese beinhalten neben den Abstandsregeln und den Hygienemassnahmen auch, dass es zu keinen Staus im Wartezimmer kommt. Wir nehmen uns mehr Zeit für die Patienten und bieten sie so auf, dass die Abstände im Wartezimmer gut eingehalten werden können. Damit wir den Patientenfluss steuern können, ist es wichtig, sich telefonisch anzumelden. Wir wollen ja nicht, dass jemand im Freien warten muss (lacht).
Gibt es auch solche, welche Arztbesuche oder Therapien aus Angst übertrieben lange hinausgeschoben und allenfalls gesundheitliche Risiken in Kauf genommen haben?
Aus unserer Praxis sind uns keine solchen Fälle bekannt, dass eine Krankheit verschleppt wurde, weil man aus Angst vor Ansteckung den Arztbesuch hinaus schob. Am Notfall im Kantonsspital sind jedoch deutlich mehr Fälle bekannt, wo Patienten sehr spät – teilweise zu spät – ins Spital gegangen sind, aus Angst, sich im Spital anzustecken.
Wie gehen Sie mit solchen Ängsten ihrer Patienten um?
Wir haben diese Ängste sehr ernst genommen und auf Wunsch auch wieder vermehrt Hausbesuche gemacht. Meine Kollegin und ich haben den Praxisbetrieb entsprechend reduziert. An Tagen, an denen sie in der Praxis war, habe ich Hausbesuche gemacht und umgekehrt. Damit hatten wir auch keine Probleme mit dem Patientenaufkommen in der Praxis.
Autor/in: Erich Gmünder | 5.05.2020 | Keine Kommentare | Tools: