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11.11.2009

Der weisse Flügel

Eine Weihnachtsgeschichte aus dem Riethüsli der 50er-Jahre.

Der Heimwehr-Riethüsler Jost auf der Maur, Autor unserer Weihnachtsgeschichte ist im Riethüsli der 50er-Jahre aufgewachsen. In jener Zeit vergnügte man sich im Winter noch auf dem Ringelberg beim Skifahren und Schlitteln. Das Bild stammt von einem anderen Heimweh-Riethüsler, Egidio Mombelli.

Jost Auf der Maur*

(Aus dem Riethüsli-Magazin 3/2009)

Die 1950er-Jahre gehen zu Ende. Am Tag des Weihnachtsabends wandern wir Kinder nach dem Mittagessen über die verschneiten Höhen von St. Gallen. Zuerst vorbei an Fräulein Adanks Kindergarten. Wir dürfen in keinen Kindergarten, weil die Eltern «schlechten Umgang» befürchten. Dann durch das «Tal der Demut» zwischen Berneggwald und Ringelberg. In Bauer Moggs Stall, wo es später brennen wird, stehen weder Esel noch Ochs, leider auch keine Lämmer. Dafür gemütliche braune Kühe, die zu kauen aufhören, wenn wir durch die Stalltüre in die feuchtwarme Dämmerigkeit hineinlugen.

Unsere Schuhsohlen mit dem Schweizerkreuzprofil in der Mitte hinterlassen danach braune Kreuzchen im Schneeweiss. Schon sehen wir das gespässige Schützenhaus Weiherweid von St. Georgen, das so tut, als sei es ein Schloss. Sogar wir Kinder merken ihm aber an, dass es kein richtiges Schloss ist. «Grässlicher Kitsch», hat uns der Papa gesagt. Aber auf dem Spaziergang vom 24. Dezember ist er jeweils nicht dabei. Zu «hähl» seien ihm die Wege jetzt, zu rutschig. Kitsch war also etwas, das nicht zu uns passte – aber was war denn das genau? Wir wissen es nicht.

Die ersten Häuser von St. Georgen. Danach die neueren Reiheneinfamilienhüsli. In einem wohnt die schöne Elisabeth Graf, aber das behalte ich sicherheitshalber für mich. Das reformierte Kirchgemeindehaus mit der Sonnenuhr, «zählt die heitren Stunden nur». Das graue Haus von Doktor Rohner. Die Bäckerei Eberle. Die hat noch offen, aber an diesem Tag dürfen wir keine Haselnussguetzli oder Spitzbuben kaufen. Schräg gegenüber das Restaurant Schützenhaus, wo wir uns immer die Geschichte von der Wirtin erzählen müssen, die ihren Kopf in den Gasofen gesteckt und sich so ums Leben gebracht hat. Das ist wunderbar schaurig, denn wir wissen ja alle, wie sie ausgesehen hat, wenn sie jeweils unter der Türe gestanden, bleich und wabbelig und schon ein bisschen leblos, eine Zigarette rauchend. Jemand hat uns erzählt, die Menschen würden grün, wenn sie es mit dem Gas machten. Wir stellen sie uns grün vor, Cornichongrün.

Dann gehen wir hinauf auf die alte Falkenburg, wo es Rivella und Ovomaltine zu trinken gibt, und wo die alten Schwyzer Kanonen aufgestellt und auf den Bischof von St. Gallen geschossen haben. Abends werden wir in der hochbarocken, aber nicht kitschigen Kathedrale in der Mitternachtsmesse sitzen und den völlig unverletzten Bischof sehen. Ein Wunder ohne Zweifel. Auf dem Falkenburgweg ist der Blick frei auf die Stadt. Der Klosterbezirk ist zu sehen, die Klosterschule, wo später der Rektor Hochwürden Hälg mich auf dem Lineal wird knien lassen, weil «nota bene» eben nicht mit «nebenbei » sondern bitte sehr mit «wohl gemerkt» zu übersetzen ist. St. Laurenzen mit den farbigen Dachziegeln, «damit›s nöd ieregnet », der Jugendstil-Bahnhof, die Hauptpost, das Lokomotivdepot mit der Drehscheibe davor. Im Schnee ist die Stadt schön still.

So gehen wir heim, innerlich versammelt und sehr aufgeregt zugleich. Und als wir ankommen, riecht es nach Mandarinen und den Tannenzweiglein, die Mama angezeuselt hat, damit es nach Weihnachten riecht. Die verkohlten Zweige liegen jetzt im Aschenbecher, wo sonst die Laurent grün ohne Filter landen. Papa scheint eindeutig ein bisschen verstrubbelt, und er sagt, er glaube, das Christkind sei da gewesen. Jedenfalls, sagt Papa, der niemals die Unwahrheit sagt, und der gewiss alles weiss, er habe, sagt er, gerade noch den weissen Flügel eines Engels gesehen. Durchs offene Fenster der Bibliothek habe er ihn entweichen sehen.

Wir waren wie vom Donner gerührt. Und es musste etwas passiert sein, wir konnten es ja selber sehen – staunend stellten wir uns vor den glitzernden Weihnachtsbaum, von dem vor unserem Abmarsch keine Spur zu sehen gewesen war. Wie hat er denn ausgesehen, dieser Engel? War wirklich nicht mehr zu sehen gewesen als der Flügel? Wie gross war der Flügel? Etwas grösser als die Flügel eines Schwans! Warum bist du, Papa, nicht sofort ans Fenster gerannt? Er habe noch zum Himmel hinauf geschaut, aber da sei schon nichts mehr zu sehen gewesen, rein gar nichts.

Ein Engel jedenfalls ist es gewesen, oder gar das Christkind persönlich. Das Christkind war für uns eine Kombination zwischen Engel und Heiland, eine Art heiliger Chimäre, auf jeden Fall sehr bedeutend und sehr lieb. Warum nur waren wir nicht daheim geblieben? Wir hätten den Engel oder das Christkind sicher sofort entdeckt. Aber was hätten wir gesagt? Bestimmt hätten wir kein Wort herausgebracht, weil es einem bei Engeln die Sprache verschlägt. Wir dachten sofort an unsere krakeligen Wunschzettel. Und wir sahen die Päcklein und Pakete, die sich neben dem Christbaum türmten. Und wir sahen die Krippe unter dem Baum. Wir legten uns auf den Bauch und sahen Maria und Josef, Ochs und Esel, Hirten mit Hirtenstab und Schafe, eine Gruppe kleiner betender Engel, etwa in unserem Alter, den Stall, die Krippe und den kleinen Jesus, mit Abstand die uninteressanteste Figur im Ensemble. Das war nicht das Christkind, von dem wir doch wussten, wie es aussieht. Das ganze Personal war stilisiert, mit Pflanzenfarben bemalt, pädagogisch wertvolle Holzarbeit, kein Kitsch. Wir durften die Figuren berühren, wir durften auch kleine Umplacierungen vornehmen und noch mehr Engelshaar und Tannenreisig auf dem Stalldach drapieren. Aber so dahinspielen wie mit den Puppenstuben der Schwestern oder mit den Kühen in meinem Holzstall und dem Traktor, das war nicht gestattet.

Die Krippe hatte mit dem Engel zu tun, den wir um wenige Minuten verpasst hatten, aber ebenso mit unseren Eltern, denen diese Krippe ja gehörte. Und der Engel persönlich hatte sie nun also aufgestellt. In der ganzen Aufregung des Tages mit den Geschenken, den Tanten und Onkeln, den Pasteten, dem Silberbesteck, den Schoggitannzapfen und dem Kinderchampagner war die Krippe unter dem Baum ein Ort der Ruhe. Es war klar, dass sie den Grund für Weihnachten erklärte. Und weil wir ja nicht mehr in Wohnställen leben, erschien es uns besonders mitleiderregend, dass der Höchste in einem Stall geboren werden musste. Gut, dass Maria schon wieder ziemlich zwäg neben der Krippe sitzen und das Kind bewachen konnte. I

m Krippenspiel bei Fräulein Hongler würde ich dann ein Baum sein wollen, nicht Wirt und nicht Josef, sondern ein Baum. Fräulein Hongler, die Lehrerin, telefonierte deswegen besorgt mit Mama. Aber die beiden wussten eben nichts von den beiden grossen Vorteilen, die der Kulissenbaum beim Krippenspiel hat: Erstens muss er nur einen einzigen Vierzeiler auswendig lernen. Zweitens steht der Baum während der ganzen Aufführung auf der Bühne und ist Maria nahe, die in Wirklichkeit Wera hiess, und die mit dem blauen Seidentuch über dem Kopf noch schöner war als Elisabeth Graf.

Die Krippe hatte jedenfalls etwas mit den ganz grossen Dingen im Leben zu tun. Auch später noch, als die Sache mit dem Engelsflügel am offenen Fenster längst aufgeflogen war, und wir begannen, die Welt neu zu erfinden und Weihnachten ein Sache für Spiesser sein musste. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» und «liebe deine Feinde». Die höchste zivilisatorische Forderung blieb haften. Daran ist beim Anblick einer Krippe zu denken, und an unsere Fremdenpolizei, die uns die vielen Marias und Josefs, die zu uns in den Stall wollen, auf unseren Wunsch von Leib und Seele hält.

*Jost Auf der Maur ist zusammen mit vier Geschwistern in den 50er-Jahren im Riethüsli aufgewachsen und hat in der Jugendzeit jeweils wie die meisten Riethüsler den Schulweg nach St. Georgen ins Hebelschulhaus unter die Füsse genommen. Nach dem Besuch der «Flade» war er nur noch ferienhalber zu Hause, weil er das Internat im Kollegium Maria Hilf in Schwyz besuchte. Seine über 30-jährige journalistische Karriere führte ihn vom Badener Tagblatt über die Basler Zeitung, die Weltwoche, Facts und die NZZ am Sonntag schliesslich zur Schweizer Familie. Er hat verschiedene Bücher verfasst und zahlreiche Journalistenpreise erhalten, zuletzt im Sommer den Ostschweizer Journalistenpreis.

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