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17.02.2008

„Tollkühne Männer auf fliegenden Ski“

Als im Riethüsli noch eine Sprungschanze stand.

Viel Publikum fiebert mit beim Sprung ins „Bodenlose“.

Die wenigsten jungen oder neu zugezogenen Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers Riethüsli wissen, dass hier einst eine schweizweit bekannte Wintersportanlage stand: die Sprungschanze des Skiclubs Riethüsli. Nächstes Jahr wäre sie 80 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat Ernst Ziegler Fakten und Reminiszenzen aus jener sportlichen Hochblüte unseres Quartiers zusammengetragen.

Ernst Ziegler (Quartierzeitung 3/2008)

Im „St. Galler Tagblatt“ vom 30. Dezember 1929 stand ein längerer Bericht über das „Eröffnungsspringen an der neuen Sprungschanze des Skiclubs Riethüsli“. Der im April 1929 gegründete Skiclub Riethüsli hatte, wie in der „St. Galler Jahresmappe“ zu lesen war, „in nächster Nähe der Stadt, bei der Haltestelle Riethüsli der Appenzeller Strassenbahn, eine künstliche Sprunganlage erbaut. Zum grossen Teil wurde die Arbeit in vielen freien Stunden von den Mitgliedern selbst geleistet, was höchste Anerkennung verdient.“

Eröffnungsspringen: Schnee in Säcken herangeführt

Das Eröffnungsspringen konnte damals trotz Ungunst der Witterung, Tauwetter und drohendem Regen, am 29. Dezember durchgeführt werden. Der Berichterstatter des Tagblatts schrieb, die Hingabe der Klubmitglieder, „die in mühseliger Arbeit den Schnee in Säcken herbeitrugen und die Bahn immer und immer wieder instand stellten“, zwinge einem grösste Achtung ab. „Die Anlage mit dem imposanten Anlaufturm präsentierte sich, soweit es bei den bestehenden Witterungsverhältnissen möglich war, in gutem Zustande. Der Schneebelag auf der Bahn war allerdings etwas dünn, aber dank aufopfernder Arbeit genügend. Die Schneebeschaffenheit liess natürlicherweise auch verschiedene Wünsche offen, der sulzige und schwere Schnee wirkte stark hemmend auf die Anlaufgeschwindigkeit, was wiederum eine Verkürzung der Sprungweiten zur Folge hatte. Dass trotzdem ganz anständige Weiten erzielt wurden und auch Stil und Haltung vieler Springer durchaus gut zu taxieren waren, stellt den Konkurrenten das beste Zeugnis aus.“

Am weitesten sprangen damals mit 27 Metern Hans Greiler vom Skiclub Riethüsli und Arnold Fintschi vom Abstinenten- Touring-Club Alpstein St. Gallen. Dieses Spektakel hatte gegen 1100 Zuschauer angelockt – bei einem Eintrittspreis von immerhin 50 Rappen.

Nachtspringen mit der „Schweizerischen Nationalmannschaft“

In den folgenden Jahren wurde an der Sprunganlage viel Fronarbeit geleistet: der Anlaufturm zuerst erhöht, dann abgebrochen, eine Lichtanlage erstellt, der Bach überdeckt. Schliesslich konnte am Samstagabend, dem 22. Januar 1949, auf der Riethüslischanze das erste Nachtspringen der Schweiz stattfinden. Gemäss Inserat startete auch „die Schweizerische Nationalmannschaft“, war eine Lautsprecheranlage vorhanden und kostete der Eintritt Fr. 1.65. 

Am 30. Dezember 1929 stand im „St. Galler Tagblatt“ (im „Morgenblatt“): „Hervorgehoben zu werden verdient noch ein gut ausgeführter Doppelsprung der Junioren Schneider und Greiler.“

Das „St. Galler Tagblatt“ meldete damals, es hätten sich annähernd 1800 Personen „zu diesem neuartigen und unbekannten nächtlichen Erlebnis eingefunden“. Der Bericht im „Morgenblatt“ vom 24. Januar lobt in herrlich journalistischer Poesie die vorbildliche Organisation, die mustergültig hergerichtete Sprunganlage und den Mut der „ins Bodenlose“ hinausspringenden Athleten. „Die Lautsprecheranlage funktionierte ebenfalls tadellos und es darf ruhig erwähnt werden, dass Herr Métral, von Sport-Sonderegger, der sich als Sprecher in verdankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hatte, viel zum guten Gelingen dieses sehr schönen sportlichen Anlasses beigetragen hat.“

Aus der Rangliste erfahren wir, dass Niklaus Stump aus Wildhaus und Andreas Däscher aus Davos mit 36 Metern am weitesten sprangen. „Von den 11 gestarteten Junioren fiel besonders Cecchinato Mario vom SC Riethüsli auf, der drei sauber beherrschte Sprünge von 27, 29 und 31,5 m hinlegte.“

1951 wurde vom Quartierverein und vom Männerchor Riethüsli eine mächtige Walliser Zinnkanne als Wanderpreis gestiftet, die schliesslich 1955 Mario Cecchinato als mehrfacher Sieger behalten durfte. Die nächste Kanne stiftete „Hongler-Sport St. Gallen“; sie blieb ebenfalls in der Familie Cecchinato: Toni hatte sie 1957, 1958 und 1959 gewonnen.

Die Nachtspringen konnten bis 1962 durchgeführt werden; an diesem letzten Springen nahm sogar die kanadische Nationalmannschaft teil, die sich auf der Durchreise an die Weltmeisterschaft in Zakopane (Hohe Tatra in Polen) befand. Damals fuhr auch Toni Cecchinato als Mitglied der schweizerischen Nationalmannschaft nach Polen.

Ich erinnere mich, als Bub mit meinem Vater auch einmal an einem Nachtspringen unter den Zuschauern gewesen zu sein.

Die Skispringerlegenden von einst: Das Trio Cecchinato, von links: Mario (77), wohnhaft in Gais, Toni (70) wohnhaft in Speicher, und Marco (73), wohnhaft in Degersheim. In der ganzen Schweiz bekannt: Das „Brüdertrio“ Cecchinato. Foto:2008

Ende Januar 1960 wurde das „Skispringer- Brüdertrio“ in einem Schweizer Wochenblatt in Wort und Bild vorgestellt: Mario, Marco und Toni Cecchinato, die damals „zu den besten Skispringern unseres Landes“ gehörten. Die Cecchinatos wohnten „etwas abseits auf der Watt oberhalb der Stadt St. Gallen“ (Wattstrasse 24). Das Haus hatte der Vater, Mario Cecchinato, gekauft, der selber ein begeisterter Skispringer und 25 Jahre lang Schanzenmeister im Riethüsli gewesen war.

In der Familie Cecchinato soll gemäss Wochenblatt die Zahl drei eine grosse Rolle gespielt haben: „Dreimal gewann das Trio die Ostschweizerische Meisterschaft, dreimal gewann Toni das Uetlibergspringen, und dreimal gab es Beinbruch, nämlich bei jedem Bruder einmal.“ Gemäss Mario Cecchinato war Toni, der die Ostschweizer Meisterschaft alleine insgesamt achtmal gewann, der beste Springer des Trios.

Bau des Anlaufturms in Fronarbeit, um 1930.

Die Sprunganlage fiel der Bauwut zum Opfer

Durch den Abbruch des „Grossen Riethüsli“ und den Bau eines Wohnhauses in diesem Areal war, nach Hans Greiler, „der Sprunganlage der Auslauf verbaut worden, so dass die ganze Sprunganlage nicht mehr benützt werden konnte“. Mario Cecchinato erzählt, es sei jeweils zwischen dem Restaurant „Riethüsli“ und der Scheune ein Schneewall aufgeschichtet worden, und ab und zu sei es vorgekommen, dass ein weniger geübter Skispringer über den Wall und durch das Tuch rutschte und erst auf dem Trottoir zum Stehen gekommen sei. Er meint, Anlauf- und Kampfrichterturm seien nach dem letzten Nachtspringen um 1962/63 abgebrochen worden, und die Schanze, ein simpler Holz-  und Erdwall, sei mit der Zeit verfallen.

Der unvergessene Hermann Bauer, Stadtredaktor der „Ostschweiz“ seligen Angedenkens, besang 1987 die Riethüsli-Schanze in einem Zeitungsartikel mit dem Titel „Tollkühne Männer auf fliegenden Ski“: Spektakuläre Skiweltmeisterschaften böten zwar ein Maximum an skisportlichem Können und skisportlicher Technik, meine er; aber das, was St. Gallen damals mit seiner Skisprunganlage geboten habe, sei auch „nicht ohne“ gewesen, weil es „auf dem eigenen Mist gewachsen“ und „vor der Haustüre sozusagen in Szene“ gegangen sei. „Begeisterungsfähig wie man damals war“, packten uns diese Skispringen, die man aus nächster Nähe verfolgen konnte, viel unmittelbarer als alles, was man heutzutage im Fernsehen bestaunen kann.

Danke!

Die Unterlagen und Photos zu diesem Beitrag — für die ich herzlich danke — stellte mir Mario Cecchinato zur Verfügung, mit dem ich seit 1971 im Judo-Club St. Gallen während vielen Jahren trainierte und bei dem noch ein weiterer Beinbruch dazukam: im Judo… EZ

Die Sprungschanze ist verschwunden, der Dachs eingezogen
Auf Spurensuche…

Ein nebliger Morgen im Riethüsli. Mario, der bärtige Mann, und sein Bruder Toni Cecchinato führen mich zu den heiligen Stätten ihrer Jugendzeit. Sie wollen mir zeigen, wo die Schanze stand, wo der Anlauf war, der Schanzentisch, der Kampfrichterturm, der Auslauf.
Wir beginnen hinter der Teufener Strasse, neben dem Wohnhaus Im Grund 22. Etwa 50 Meter weiter links, sagt Mario, war der Auslauf. Wir wagen uns hinein in dieses Dickicht, steigen schnaufend hoch, kämpfen uns durch Buschwerk und Brombeerranken. Plötzlich hebt Mario den Arm: “Siehst du dort, ein Rudel Rehe.” – Darauf Toni: „Und da, wo sich die Äste bewegen, da ist bestimmt gleich ein Fuchs in der Höhle verschwunden.” Der scharfe Blick verrät den Jäger – eine Leidenschaft, der beide gemeinsam seit dem Ende ihrer Sportlerkarriere frönen.

Tatsächlich, wenig später finden wir einen Dachsbau, grosszügig ausgehoben, der jetzt den Nachmietern, einer Fuchsfamilie, als Unterkunft dient. Zu sehen sind die Bewohner zwar nicht, doch eine ganze Sammlung von Schuhen diverser Grössen verrät die Räuber.

Schliesslich, nach beinahe halbstündigem Aufstieg, landen wir im Hafnerwald. Wo war der Kampfrichterturm? Der Anlauf? Nichts deutet mehr darauf hin, kein Stück Holz, alles abgebrochen oder überwachsen. Wildnis pur. Nur aufgrund des Alters der Bäume kann man vage vermuten,wo es runterging. Auch der ehemalige Aus-lauf lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Doch die Erinnerungen kommen bei den beiden Cecchinatos wieder hoch, wie sie als Schüler heimlich in der Nacht sprangen, damit die Eltern, die auf dem Gegenhang wohnten, sie nicht sehen konnten. Oft für einen Zwanzger, der von Schulkollegen als Belohnung für den Mut ausgesetzt wurde.

Landung auf der Strasse
Die Gebrüder Cecchinato, die späteren Stars der Skispringerszene (siehe „Tollkühne Männer auf fliegenden Ski“), zeigen mir, wo das „Grosse Riethüsli“ stand, just neben der heutigen Shell-Tankstelle. Heute steht hier ein graues Mehrfamilienhaus. Genau hier war es, wo mancher auf der Strasse landete, der nicht rechtzeitig abschwingen konnte.
Erich Gmünder

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