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30.12.2021

«Ich verstehe das Wasser»

Im Riethüsli wohnt ein mehrfacher Schweizermeister und frischgebackener Rekordhalter.

Christian Schreiber, Schweizermeister und Rekordhalter, wohnt an der Hochwachtstrasse.

Claudia Jakob. Bilder: Claudia Jakob und zvg

Wer kann schon von sich behaupten, dass er in seinem Leben mehr Kilometer schwimmend als laufend absolviert hat?

Christian Schreiber, 19 Jahre alt, lebt an der Hochwachtstrasse, ist Schwimmer im Kader der Nationalmannschaft und Schweizermeister in der Disziplin open water über fünf Kilometer (!) und kann diese Frage mit gutem Gewissen mit JA beantworten.

Es ist ein ungewöhnlicher Ort für ein Interview: McDonalds, Marktplatz Bohl, abends kurz vor neun Uhr. Doch war es Christians Wunsch, dass wir uns bei seinem Sponsor treffen. Wer gut darauf achtet, sieht beim Eingang sein Poster. McDonalds Schweiz fördert Nachwuchssportler aus der Region – so eben auch Christian Schreiber.

Mich empfängt ein höflicher, intelligenter und aufmerksamer junger Mann. Christian hat sich gut vorbereitet und erzählt mir auf eine witzige, aber auch sehr reflektierte Art und Weise, was sich in seinem Leben seit 2013 alles ereignet hat.

Demut vor der Medaille

Angefangen hat alles in einem normalen Schwimmkurs – kleine Kinder, die lernen, sich über Wasser zu halten. Christian blieb aber nach dem Kurs bei diesem Sport. Er behauptet von sich, dass er ansonsten – sportlich gesehen – talentfrei sei. Er trat dem Schwimmclub St.Gallen bei und trainierte jede Woche während vier Stunden im Volksbad. Später, nach Fusionierungen und Neuorganisationen, schwamm er beim Schwimmverein St.Gallen–Wittenbach (SVSW), wo er auch heute noch trainiert.

Im Jahr 2014 qualifizierte er sich zum ersten Mal für ein Finale der Jugendschweizermeisterschaft (JSM), wo er den 6. Rang belegte. Zu grosse Erwartungen liessen ihn enttäuscht und zugleich mit einer Demut erkennen, dass ein Sieg etwas Spezielles und nicht für alle einfach so zu erreichen ist. Es folgte eine lange Durststrecke, immer durfte er nur zuschauen, seine Kollegen vom Beckenrand aus anfeuern, doch selbst erreichte er keinen Final mehr. Hinzu kam, dass er körperlich nicht gleich weit entwickelt war wie seine gleichaltrigen Kollegen.

Zu dieser Zeit besuchte er die Sportsekundarschule in der Blumenau, so dass er Schule und Schwimmsport unter einen Hut bringen konnte. Doch der fehlende Erfolg nagte an seinem Selbstvertrauen. «Eigentlich war ich happy mit meinen Leistungen, doch die Leute um mich herum erreichten das, was ich gerne gehabt hätte», erzählt Christian.

Der Coach Gabriel

Für Christian war klar, dass er ein erfolgreicher Schwimmer werden wollte. Doch neben Talent und viel Arbeit am eigenen Können braucht es einen Coach, der einen versteht, fördert und fordert. So las Christians Vater im Jahr 2012 im Tagblatt einen Artikel über Gabriel Schneider, der Schwimmtrainer war. Die Familie organisierte das Training so, dass Christian bei Gabriel trainieren konnte. Er ist ihm bis heute treu geblieben, der Name Gabriel fällt sehr oft während unseres Gesprächs. Für Christian ist er nicht nur Motivator und Förderer, sondern gleichzeitig sein grösster Kritiker. Er war es dann auch, der im Jahre 2017 Christians Training intensivierte.

Christian mit Coach Gabriel Schneider.

Es folgte ein Trainingslager in Barcelona und anschliessend endlich wieder ein Final. Seine härtesten Konkurrenten waren seine Kollegen aus dem Schwimmclub. Sie kämpften hart um den 3. Platz, Christian verlor. Dies war das erste Mal, dass er nach einem Rennen weinte. «Ich hatte alles im Wasser gelassen», meint er mit einem Seufzer in der Stimme.

Viele Medaillen – doch nicht die eine

Im Sommer 2017 machte Christian den Übertritt an die Kantonsschule St.Gallen. Trotz erhöhten Anforderungen der Schule konnte er sein Training weiterhin absolvieren. Ein Jahr später trat er an den Jugendschweizermeisterschaften an, die Erwartungen und damit auch der Druck waren sehr gross. Am ersten Wettkampftag startete er denkbar schlecht, holte jedoch soweit auf, dass er zum Schluss auf dem 2. Rang landete! Und neben ihm standen zur Rechten und zur Linken zwei seiner Teamkollegen, ein «Sanggallerpodest».

Endlich hatte er seine erste Medaille geholt, endlich lieferte er die Leistungen, auf welche er hintrainiert hatte. Dieses Muster wiederholte sich mehrmals – Christian schwamm immer wieder auf den 2. Rang, doch die Goldmedaille blieb ihm verwehrt.

1500 Meter Kraul und Corona

Eigentlich besuchte ich an jenem Abend im McDonalds eine Weiterbildung bei Christian Schreiber. Der Schwimmsport ist vielschichtig und verfügt über unzählige Disziplinen. Lagen, Kraul, Delfin, Staffel, open water – um nur einige zu nennen. Christians Königsdisziplin war 1500 m Kraul, also kraulen über 1500 Meter. Im Jahre 2019 schaffte er den Sprung ins Nationalkader. Anstatt dass Christian damit angeben würde, gesteht er ehrlich: «Ich hatte mich nicht durch meine Schwimmzeit dafür qualifizieren können, sondern rutschte über ein anderes Verfahren ins Nationalkader.»

Die Jugendeuropameisterschaften standen an, der Limitenversuch sollte gewagt werden, jedoch wurde der Event abgesagt. Christian konnte sich nicht beweisen, Corona machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Von einem Tag auf den anderen fanden keine Trainings mehr statt, acht lange Wochen durfte er nicht in seinem liebsten Element sein. «Ich kam mit Hüftgold zurück», schmunzelt Christian.

Es dauerte ganze sechs Monate, um den Rückstand aufzuholen.

Open water eröffnet neue Möglichkeiten

In diesem Jahr gewann er an der Schweizermeisterschaft im Frühling eine weitere Silbermedaille in seiner Disziplin 1500 m Kraul – der ewige Zweite. Jedoch war seine Zeit unter 16 Minuten, sodass er sich für die Europameisterschaft open water in Ungarn qualifizierte. Nun musste sein Training umgekrempelt werden: In der Disziplin open water werden 5000 Meter geschwommen, das dauert etwa eine Stunde. So trainierte er die Frühlingsferien durch, um für die EM im Mai fit zu sein. Nach einer turbulenten Anreise, da der Covidtest älter als 48 Stunden gewesen war und umgebucht werden musste, startete Christian als einer von 24 Schwimmern und belegte prompt den 16. Rang. «Ich hatte nichts zu verlieren und schickte mich ins Geschehen. Jedoch wollte ich nicht letzter werden», schmunzelt er.

Endlich Gold!

Nach seinen Maturaprüfungen im Juni 2021 nahm Christian erneut an den Schweizermeisterschaften im Sommer teil. Er erzählt mir, sein Körper sei müde, ohne Energie gewesen. Doch irgendwie schien er trotzdem bereit gewesen zu sein, endlich so richtig abzuräumen: Er siegte über 1500 m Kraul und gewann seine erste Goldmedaille – Schweizermeister! «Meine Zeit lag leider bei 15 Minuten und 55 Sekunden, dies stimmte mich missmutig», sagte Christian, «ich war wieder nicht zufrieden, obwohl ich gewonnen hatte.»

Jedoch gehört nicht dieser Sieg zu den drei Höhepunkten in seiner Karriere, sondern der Sieg über seinen ärgsten Rivalen und gleichzeitig auch Kollegen Marius Toscan. «Immer, wenn ich gegen ihn antrat, verlor ich. Nur dieses eine Mal hatte ich gewonnen, er folgte mir auf dem zweiten Platz. Ein tolles Gefühl», lacht Christian.

Ende August fanden die Schweizermeisterschaften in der Disziplin open water in Meisterschwanden am Hallwilersee statt. Christians Fluch schien gebrochen – er räumte drei Goldmedaillen ab. Vor allem eine freute ihn sehr: «Ich war der Schnellste über alle Jahrgänge gesehen auf der Distanz 5 Kilometer.»

Und was kommt noch?

«Meine Ziele erzähle ich Fremden nicht», meint Christian verschmitzt. Natürlich hätte ich gerne erfahren, was der junge Athlet noch erreichen würde. «Eine Olympiade wäre schön und ein Schweizerrekord», verrät er mir dann trotzdem. Wie erreicht er das? Klar, mit mehr Trainings, 11 Mal pro Woche springt Christian morgens, abends, werktags und samstags ins kühle Nass, um seinen Traum zu verwirklichen. Ohne Fleiss kein Preis, wenn man Christians Werdegang Revue passieren lässt. Ich werde auf alle Fälle ab jetzt bei allen Schwimmwettkämpfen nach seinem Namen Ausschau halten, wir werden ihn noch öfters lesen und hören, hoffe und glaube ich. Ich drück dir die Daumen, Christian!

Neuer Schweizerrekord

Ein Wunsch von Christian ging am 21. November in Erfüllung: Er stellte über 1500 m Freistil einen neuen Schweizerrekord auf. Mit 15:08.23 löschte er den den ältesten Schweizerrekord aus den Geschichtsbüchern, den zuvor 20 Jahre lang Yves Platel von Genève Natation in 15:11.50 gehalten hatte.

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