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28.05.2022

«Es sind hier alle so nett»

Adriana ist eine der Ukrainerinnen und Ukrainer, die in unserem Quartier Aufnahme gefunden haben.

Erich Gmünder, Text und Fotos

Adriana ist am 24. März, auf den Tag genau einen Monat nach Kriegsbeginn, zusammen mit ihrem 14-jährigen Sohn Severyn die 1500 Kilometer von Lemberg in die Schweiz gefahren und lebt seither beim Gastgeberpaar Heidi und Franz Kundela.

Als Adriana auf Ukrainisch, für den Lokalreporter übersetzt von der Dolmetscherin Svitlana (zu deren Rolle wir gleich kommen) von ihrer Flucht erzählt, und von den langen Tagen, bevor sie sich entschied, mit ihrem Sohn das Heimatland und ihre Liebsten zu verlassen, versagt ihr ab und zu die Stimme. Der getrennt von ihr lebende Mann und Vater ihres gemeinsamen Sohnes blieb zurück, ebenso wie ihre Eltern und viele Freunde und Bekannte – er, weil er die Heimat verteidigen will, die Eltern, weil sie ihr gewohntes Leben nicht aufgeben wollen und die ständige Bedrohung und Bombenalarme auf sich nehmen.

Ihr Ex-Mann sei erleichtert gewesen, weiss sie von Severyn, der den Kontakt mit seinem Vater telefonisch aufrechterhält. Dieser wurde bisher wegen den Folgen einer Operation nicht eingezogen, bereitet sich aber intensiv vor auf den Einsatz an der Heimatfront. «Die Armee wollte ihn gar nicht behalten, dort hiess es, er sei dienstuntauglich – doch er wollte bleiben und kämpfen.»

Ein Wink des Schicksal

Den Ausschlag für den Entscheid gab ein Gruppenchat auf Telegram (Alternative zu WhatsApp). Just als sie den Chat aufrief, ploppte eine Nachricht aus der Schweiz auf, dass hier Schutzsuchende wohlwollend aufgenommen würden. Die Nachricht stammte von Svitlana, einer Ukrainerin, die seit 10 Jahren in St. Gallen lebt und sich nun fast Tag und Nacht um ihre Landsleute kümmert. Adriana schrieb ihr, Svitlana rief zurück und sagte: «Komm zu uns».

«Das war wie ein Wink des Schicksals», so Adriana. Das war am 21. März. Doch sie sei noch nicht parat gewesen, wegzugehen und ihr Land, ihr gewohntes Umfeld mit ihrem Sohn zu verlassen. Dabei lebte sie die letzten Wochen ständig unter der Angst; die Bombenalarme hätten kaum einen Aufenthalt im Freien erlaubt. So habe sie mehrere Tage gebraucht, die Pneus an ihrem Auto zu wechseln. Sie musste die Arbeit immer wieder liegen lassen, um den Keller aufzusuchen. Jedesmal, wenn es eine längere Atempause gegeben habe, sei Hoffnung aufgekeimt, der Horror sei zu Ende – bis es wieder von vorne los ging.

Doch schliesslich rang sie sich zu einem Entscheid durch. Die beiden nahmen mit vielen Tränen Abschied von Ex-Mann und Vater, packten das Notwendigste ein und fuhren am Morgen des 24. März los. Via Polen ging es nach Tschechien, wo sie ein paar Stunden in einem Hotel ausruhten. Svitlana begleitete sie via Chat – und machte sich Sorgen, wie Adriana gleichzeitig fahren und Nachrichten schreiben konnte…

Das Rätsel löste sich erst später auf: Ihr Sohn auf dem Beifahrersitz benutzte das Handy seiner Mutter, um den Kontakt zu Svitlana zu halten. In der Zwischenzeit hatte Svitlana dank ihren Beziehungen eine Gastgeberfamilie im Riethüsli gefunden. Heidi und Franz Kundela richteten sich für die beiden Gäste ein. Am Abend des 25. März – Svitlana hatte sie erst einen Tag später erwartet – trafen diese ein, und nach kurzer Begrüssung ging es gleich zum neuen Domizil in Oberhofstetten.

Der Schock kam erst danach

Sie sei trotz der langen Autofahrt – etwas Vergleichbares habe sie noch nie gemacht – nicht müde gewesen, aber wie benebelt, und habe Mühe gehabt, sich zu orientieren. Und ein schlechtes Gewissen und das Gefühl, eine Belastung zu sein, erzählt Adriana mit leicht stockender Stimme. Umso positiver sei sie überrascht gewesen vom warmherzigen Empfang. Denn sie habe sich vorher gar nicht nach den Bedingungen erkundigt, wie und wo sie unterkommen würden, sondern einfach alles ausgeblendet. Dank der einfühlsamen Betreuung des Gastgeberpaares habe sie sich sofort wohl gefühlt: «Mein inneres Gefühl sagte mir, dass ich am richtigen Ort bin. – Das ist das Beste, was uns passieren konnte – trotz der traurigen Umstände», zieht sie nach einem Monat Bilanz.

Trotzdem wurde sie vom Schock und Stress Tage danach noch eingeholt, sie fühlte sich krank, machte einen Corona-Test – der war negativ. Heidi holte sie aus dem Tief heraus: Sie schlug ihre eine Wanderung in der verschneiten Appenzeller Berglandschaft vor – nach der zweistündigen Tour sei die Krankheit wie weggeblasen gewesen.

Nun war sie bereit, die neue Umgebung kennen zu lernen und sich einzuleben. Die Natur vor der Haustüre, die ersten Frühlingsboten hätten es ihr leicht gemacht: «Ich liebe die Natur, und hier sieht es eigentlich ganz ähnlich aus wie zu Hause, mit grünen Wiesen, Wäldern und Bergen.» Sie freue sich, wenn Kundelas Gäste empfangen und sie sich mit ihnen auf Englisch unterhalten könne.

Überhaupt seien hier alle so nett, begrüssten sie – über jedes «Griezi» freue sie sich. Doch nun will sie unbedingt Deutsch lernen, um sich mit den Menschen besser verständigen zu können. Zu Beginn verfolgte sie auf ihrem Laptop Sprachkurse auf Youtube; Heidi gab ihr Kinderbücher als Einstieg, und seit Anfang Mai besucht sie einen Sprachkurs und ein Konversationsangebot in der Stadtbibliothek.

Ihr Ziel ist nun, eine Beschäftigung zu finden. Sie war in der Ukraine in leitender Stellung für die Finanzen eines Unternehmens verantwortlich und erstellt nun Bewerbungsunterlagen, um bald wieder arbeiten zu können. «Ich brauche wieder eine Aufgabe, einen Sinn im Leben.» Denn wie lange sie in der Schweiz leben wird zusammen mit ihrem Sohn, der seinen Vater und seine Freunde so sehr vermisst, weiss sie nicht. Aber eines weiss sie: Sobald die Um- stände es erlauben, will sie zurück.

Im Einsatz für ihre Landsleute

Eine wichtige Rolle – nicht nur für Adriana – spielt bei der Unterbringung der kriegstraumatisierten Menschen die Ukrainerin Svitlana (im Bild oben links). Sie lotst nicht nur Schutzsuchende in die Schweiz, sondern engagiert sich für ihre Integration. So war sie als Dolmetscherin im Einsatz, als die 120 Schutzsuchenden in Teufen ankamen. Und sie verstand nicht, dass viele Flüchtende zu Beginn nur Zürich im Fokus hatten, wo insbesondere Frauen mit Kindern keine passenden Unterkünfte zur Verfügung standen. Statt der versprochenen «unbürokratischen» Hilfe habe dort am Anfang ein Chaos geherrscht, die Behörden seien überlastet – deshalb ihr Aufruf im Telegramchat, auf den Adriana per Zufall stiess.

Svitlana ist studierte Psychologin. Sie kam vor 25 Jahren nach Deutschland, weil sie damals, als 18-Jährige, in der Ukraine keine Zukunft sah. Nach der Scheidung zog sie mit ihrem Sohn nach Schaffhausen und vor 10 Jahren nach St. Gallen. In einer 80-Prozent-Anstellung arbeitet sie heute als Berufsbeiständin in einer Gemeinde der Region und engagiert sich daneben seit dem Kriegsausbruch fast rund um die Uhr als Dolmetscherin und Vertrauensperson für ihre Landsleute. Neben Ukrainisch und Russisch spricht sie perfekt Deutsch und hat selber eine Ukrainerin mit ihrer Tochter aufgenommen: Olga, die mit ihr zusammen aufgewachsen ist und die sie von Kindsbeinen an kennt.

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