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21.06.2023

Von Poulets, Molchen und einem Riesendrachen

Jost Auf der Maur: Früher im Riethüsli.

Der Tümpel nach der Renaturierung des Weierweidbaches. Foto EG

Zwischen der Teufener Strasse beim Riethüsli und dem Schützenhaus Weiherweid bei St.Georgen liegt als sanfte Mulde das Tal der Demut. Hier liessen sich einst naturwissenschaftliche Erkenntnisse der besonderen Art sammeln.

Jost Auf der Maur

Als das «Kleine Riethüsli» noch ein Knusperhäuschen war mit Schindelfassade und Giebeldach, wirtete da in den 1950er und 1960er Jahren das italienische Wirtspaar Ortombina. So klein diese Beiz war, sie war sehr gemütlich, sehr sauber und immer von einem unvergesslich appetitlichen Geruch erfüllt. An der Wand hing das Bild einer fernen italienischen Landschaft, wahrscheinlich der Sehnsuchtsort der Ortombinas. Und neben der Eingangstüre war ein grosser weisser Teller angebracht, auf dem stilisiert das blaue Pferd der Brauerei Haldengut zu sehen war. Nix da mit Schützengarten.

Die beiden Bilder zeigen (oben) das Tal der Demut mit dem «Nest» und unten den italienischen Gasthof inklusive Wirt. Fotos: zvg

Das «Kleine Riethüsli» war eben ein bisschen exotisch, und dazu gehörte natürlich auch der warme italienische Akzent der Wirtsleute. Am Sonntagmittag bei den Ortombinas einzukehren, gehörte zu den erfreulichen Seiten dieses endlosen Tages, an dem das Spielen im Freien den meisten Kindern noch untersagt war. Das kulinarische Zentrum im «Kleinen Riethüsli» war sonntags das Poulet, und das war von traumhafter Qualität, keineswegs billig, knusprig gebraten und nach Rosmarin duftend. Dazu gab es Risotto Milanese. Oder Pommes Frites, selber geschnitten und geschmurgelt. Zum Dessert: Cassata oder Zabaglione.

Tiefe Zufriedenheit

Danach nachmittags daheim am Radio die Reportage eines Fussballspiels. Was sonntags nicht erlaubt war, war dafür am freien Mittwoch- oder Samstagnachmittag willkommen: Ausgerüstet mit Gummistiefeln dem Weiherweidbächlein entlang durch den Morast watscheln, in den unergründlichen Moortümpeln nach Molchen jagen und sie in Salzgurkengläsern einkerkern. Das wäre heute ein Verstoss gegen die Schutzgebote, damals kümmerte sich niemand darum. Die Molche überlebten in dem neuen Zuhause nicht länger als zwei oder drei Tage. Ihr Unwohlsein schien sich zudem auf die junge Zoodirektion zu übertragen, denn ein bisschen taten einem die flutschigen Tierchen schon auch leid. Darum wurden sie mit der Zeit bereits vor ihrem Ableben im Nestweiher ausgesetzt – wo sie wahrscheinlich sofort gefressen worden sind. Auch nicht gut, aber wenigstens beruhigte sich so das schlechte Gewissen.

Ein Tier von ganz anderer Grösse

war der Riesendrachen, der damals über das Tal der Demut geflogen ist. Er bestand aus Bambus und lackiertem Seidenpapier, und er war wirklich sehr gross. Mindestens so gross wie ein richtiges Flugzeug. Er musste darum im Freien zusammengebaut und dann von einem halben Dutzend stolzer Buben ins Tal der Demut getragen werden. Es folgten lange Beratungen darüber, wann und bei welchem Wind der Drachen steigen sollte – und wer am Boden mit der Drachenschnur in der Hand genug schnell rennen konnte, damit das Ungetüm sich erheben würde.

Endlich war es dann soweit; eine Gruppe musste den Drachen über den Köpfen halten, mit Anstellwinkel, und die drei Ältesten standen bereit, loszurennen. Alle Kinder aus dem Riethüsli und dem Nest waren da, auch die Mädchen, natürlich ausser jenen, die nicht mit uns Lausebengeln spielen durften. Was für eine Aufregung! Das Seidenpapier knatterte schon im Wind.

Und los ging’s, und wie sie rannten, wobei der Drachen viel mehr Widerstand bot als erwartet, so gross war seine Fläche. Er begann tatsächlich zu steigen, wie in Zeitlupe, wahnsinnig, unser Drache gewann Höhe, er stieg, wir jubelten, es war wunderbar. Es war einfach ganz wunderbar, der weisse trapezförmige Drachen am Himmel über dem Tal der Demut.

Wie hoch stieg er? Sehr hoch. In der Erinnerung steht er immer noch dort oben. Aber dann, mit einem Mal, ging ihm irgendwie die Luft aus, die Zugschnur erschlaffte, er kippte weg, kippte nach vorn und raste in unglaublicher Geschwindigkeit, fast senkrecht zum Schluss, hinab zu uns, der Erde entgegen, geradewegs ins Verderben. Er sollte nie wieder fliegen. Nichts war mehr ganz an ihm. Aber in der Erinnerung, da hat er überlebt.

RH Magazin 1/2018 

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