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22.10.2022

Leben auf und neben der Teufener Strasse im Jahre 2032

Stellen Sie sich vor, es ist 10 Jahre später.

Die Teufener Strasse hinunter, morgens um 7 Uhr. Illustration: Kalinichenko

Text: Martin Wettstein

Leben wir schon im Jahr 2032? – Ja, warum nicht?

Einfach zum Beispiel. Ein Mann, den man im Riethüsli Cecchi nennt (sprich: Tscheggi), Enkel eines Skispringers, macht fast jeden Tag einen Morgenspaziergang, kurz nach 7 Uhr, von der Liebegg zum Riethüsli. Und von dort gemächlich hinunter zur Geltenwilenstrasse. Eine ziemlich lange Strecke, aber Cecchi geniesst sie jedes Mal, denn er sieht, dass die gigantische Fahrzeugkolonne, die sich hier gebildet hat, still steht, Wagen an Wagen, und dass dabei nicht gehupt oder geflucht wird, sondern alle ganz friedlich und geradezu fröhlich im Stau warten. Fast nur elektrische SUVs, alle etwas länger, breiter, höher als 2022.

Von der Liebegg an interessiert sich Cecchi vor allem dafür, was im Innern der Wagen zu sehen ist. Zum Beispiel dies: Ein junges Paar hat die vorderen Sitze in waagrechte Stellung gekippt, die Scheiben färben sich dann automatisch schwarz ein. Leider halt nichts mehr zu sehen. (Die «Liebegg» heisst übrigens lange schon «Liebesegg». Auch bei «Lustmühle» denkt man seit einiger Zeit an etwas anderes). In vielen der nächsten Wagen arbeiten die Wartenden an Laptops: Street-Office. Manche sind mit ihrem Büro (in der Stadt unten oder in Gossau, in Rorschach usw.) via Videoschaltung verbunden; oft in Form von Video-Konferenzen.

Dann eine Fahrerin, die sich im SUV einen Kaffeeautomaten hat einrichten lassen. Im weichen Sitz hinter dem Steuer schmeckt der Kaffee grossartig! Männer rasieren sich, Frauen sind mit Kosmetik beschäftigt. Kinder rennen ums Auto herum; das ist ja nicht gefährlich. – Weiter vorn sind zwei Männer ausgestiegen (Cecchi kennt die beiden), sie stehen immer an derselben Stelle in der Kolonne und erzählen sich auf der Strasse täglich denselben Witz. «Kennst du den…?» …Der andere lacht schon, bevor der Witz begonnen hat.

Zwei Frauen spielen Blitz-Schach. Brett zwischen den Vordersitzen. Einer liest tatsächlich ein Buch. Den Roman von Julie Otsuka: «Wovon wir träumten». Ein Zeitungs-Austräger geht dem Stau entlang, reicht durchs offene Seitenfenster eine Gratiszeitung. Früher hiess sie «20 Minuten», seit einiger Zeit «90 Minuten». Mehrere Handys sind in jede Innen-Front eingebaut und permanent online: «Schatz, wo bist du grad?» – «Im Stau.» –  «Was machst du?» – «Meditieren.» – «Glückspilz!» Eines der Handys gibt jeweils Auskunft übers Wetter. Die Gestauten erfahren dann zum Beispiel, dass es draussen regnet. Auf der Höhe der Schwyter-Bäckerei bringt eine Frau Gipfeli an die offenen Wagenfenster (Cecchi bekommt eines gratis!), CHF 5.20 pro Stück, wird per Autonummer abgebucht.

Alle «Clear Channel Plakate» an den linken Mauern sind schon lange verschwunden. Ein einziges (wo früher die Federer-Schuh-Werbung hing) begrüsst die gestauten Wartenden mit einem Zitat, in riesigen Lettern, von Erica Pedretti: «Alles Mögliche lernt man, aber Warten lernt man nicht. Sollte Pflichtfach sein in der Schule…wäre wichtiger als Rechnen, Geschichte, Geographie…!» [aus ihrem Roman «Das unerzogene Auge»]

Auf der Höhe des Nestweihers sitzt meist ein zerzauster Vogel auf dem Hag und schaut verwirrt auf den Stau. Fliegen kann er offensichtlich kaum, der ärmste. Nur eine einzige Lenkerin kennt seinen exotischen Namen: «Fredi Vogl».

(Wichtiges Detail zwischen den Zeilen: Der Bus Nr. 5 hat natürlich eine eigene Spur und rauscht flott die Teufener Strasse hinunter zum Bahnhof).

 Jetzt geht’s abwärts, Richtung Stadt. Der Hochwacht-Kiosk steht längst auf der rechten Strassenseite. Hier können Mann und Frau durchs offene Autofenster Getränke und Sandwiches kaufen. Bezahlen wie bei Schwyter. – Cecchi überholt, dem Stau entlang spazierend, Autos, die ihm Freude machen: Porsche High Heels, Jaguar Amazonas, BMW Grandezza, Tesla Luna Backside, Jeep Black-Box…und ab und zu einen antiken VW Polo. Die Fahrer grüssen ihn wie einen alten Bekannten. Ein Einziger schreit aus dem Fenster: «Dä huere verdammt Stau jede Morge! Scheisse!» – Cecchi fragt ihn: «Kennen Sie den «Tango»?» – «Tja, ein bisschen, aber ich war nie gut in den Tanzstunden!» – «Nein, ich meine den «Tango» der Appenzeller Bahn. Damit wären Sie für 2 Franken in 5 Minuten unten in der Stadt.» – «Ja hallo: Was soll ich dann mit meinem Maserati vor meinem Haus? Hat ja 100 Mille gekostet, gopfertammi!».

Jetzt natürlich und endlich die Gewissensfrage: Wie reagieren eigentlich die angeblich geplagten Anwohner der Teufener Strasse auf diesen entsetzlich langen Autostau? – Man glaubt es kaum: fröhlich! Die meisten sind pensioniert und viele prosten mit ihren Frühstückstassen den Fahrenden zu. Wenn sich die Kolonne manchmal unmerklich bewegt, im 10-kmh-Tempo, dann ist nichts zu hören. Strassenbelag: seit langem ein sogenannter Flüsterbelag. Und wer von den Anwohnern die Fenster geschlossen hält, der vernimmt hinter den dreifach verglasten, staatlich subventionierten Fensterscheiben keinen Laut, der von draussen hereindringen könnte. Drinnen: Zmorge zu Musik von Vivaldis «Vier Jahreszeiten».

Wenn die «Stau-Reise» unten an der Geltenwilenstrasse schon fast zu Ende ist, senkt sich bei einem Fahrer die linke Scheibe herunter und er ruft dem hinter ihm Wartenden zu, der sich hinauslehnt: «Hei! Etz simmer scho done. Schaad, gellezi!»

P.S. 1: Vor Jahren haben St. Gallen und Ausserrhoden für Abermillionen Franken einen Autotunnel (genannt „Spange“) von der Liebegg zum Güterbahnhof hinunter bohren wollen. Gottlob war das Projekt damals schnell wieder vom Tisch, vor allem wegen vehementer Proteste der Stau-Lobby.

P.S. 2: Können Glossen auch schon fast die Realität abbilden? – Vielleicht, wer weiss. 

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